Wolf und Schildkröte (Die Begegnung)

Es war heiß. Ein typischer Sommertag auf einer kleinen, versteckten tropischen Insel inmitten des pazifischen Ozeans. Der Himmel strahlte blau, und die Sonne sandte ihre unbarmherzigen Strahlen auf die Erde.

Chinley befand sich auf dem Weg zu einer ganz besonders saftigen Pflanze. Bedächtig setzte er eine Pfote vor die andere, der Panzer erschien ihm heut besonders schwer auf seinem Rücken zu lasten. Was war nur los mit ihm, wurde er etwa alt? Wobei er doch genau wusste, dass er noch nicht einmal die Hälfte seines möglichen Lebensalters erreicht hatte. Nein, die drückende Last seines Panzers musste eine andere Ursache haben: Es lag etwas in der Luft, etwas unbekanntes; ein Hauch von Außergewöhnlichem, das er nicht in klare Gedanken fassen konnte. Eine leise Ahnung stieg leicht perlend in ihm hoch und beunruhigte ihn ein wenig. Ihm schien, dass seine geruhsame, friedliche Einsamkeit wohl bald ein Ende haben würde. Auf welche Art und Weise, vermochte er nicht zu sagen. "Dann soll es eben so sein, der Sinn dessen, was kommt, wird sich mir schon noch erschließen", seufzte Chinley leise vor sich hin. " Verhindern kann ich den Lauf der Dinge nicht", murmelte er und zog weiter auf seinem Weg zum Mittagstisch.

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort auf der kleinen, versteckten tropischen Insel inmitten des pazifischen Ozeans: Canis setzte sich verwirrt auf und schüttelte ungläubig den kopf. Sie wusste weder, wo sie war noch, wie sie hierhergeraten sein konnte. In ihrem Gedächtnis klaffte ein tiefes, schwarzes loch. Was war bloß passiert? Ratlos ließ sie ihren Blick umher schweifen, und was sie sah, verschlug ihr beinahe den Atem. Wohin ihre Augen auch wanderten, alles leuchtete in den verschiedensten, schillerndsten Grüntönen. Pflanzen, Bäume, Gewächse, die sie noch niemals in ihrem Leben gesehen hatte, wohin sie auch schaute. Wo war sie nur gelandet? Und wie war sie hier her geraten? Sie wusste keine antwort auf ihre Fragen. Aber ihr Magen knurrte. Und so machte Canis sich auf, ihre Umgebung ein wenig näher zu erkunden.

Chinley lag satt und zufrieden in der Sonne. Die Unruhe hatte sich allmählich gelegt, nachdem ihm klar geworden war, dass er an den kommenden Ereignissen sowieso nichts würde ändern können. Was geschehen würde, wäre ein Teil des Kreislaufes, in dem ein jedes Leben sich befand und ganz bestimmt nicht ausgerechnet durch ihn unterbrochen würde. Manchmal ging das Leben sonderare Wege, und oft fühlte er sich selbst am sonderbarsten dabei. Er würde niemals alles verstehen lernen, so lange er auf dieser wunderschönen Welt auch verweilen durfte. Die wohlige Wärme, welche die Sonne auf seinem Panzer verbreitete, ließ ihn langsam schläfrig werden. So dämmerte er geruhsam vor sich hin, bis ein leises Knacken ihn aus seinem Halbschlaf riss.

Canis befand, dass sie großes Glück gehabt hatte. Wenngleich sie nicht wusste, wie sie an diesen Platz geraten war und das schwarze loch in ihrem Gedächnis weiterhin unheimlich seine Kreise zog, bot ihr das Land, auf dem sie sich bewegte, doch eine sehr reichliche Auswahl an frischem Futter. So hatte sie ziemlich bald ein Nest mit seltsamen, kleinen Jungtieren gefunden, die ihr vorzüglich gemundet hatten. Wenn es nur nicht so heiß wäre! Die Sonnenstrahlen brannten ungewohnt heiß auf den Pelz der Wölfin und ließen sie in einem fort hecheln, um sich ein bisschen Erleichterung zu verschaffen. Doch die Neugier siegte über die unbehagliche Wärme und das Bedürfnis, sich nach einem schattigen Plätzchen umzusehen; satt und zusehends zufrieden begann sie , ihre Umgebung etwas genauer zu erkunden und alles um sich herum viel deutlicher als vor dem Festmahl wahr zu nehmen. Neugierig bahnte sich Canis den Weg aus dem Gebüsch ins Freie. Ihre Nackenhaare sträubten sich und stellten sich wie von Geisterhand steil nach oben gerichtet auf, als sie plötzlich kurz vor sich ein recht wundersasmes Wesen liegen sah. Es maß ungefähr zwei Drittel ihrer Körpergröße, lag aber ungewöhnlich flach am Boden. Es hatte nirgendwo Haare, sondern trug auf seinem Rücken einen Panzer, der nicht aus Fleisch und Blut gemacht schien. Unter dem Panzer meinte sie vier winzige, kleine nackte Füßchen zu sehen. Und doch blickten ihr zwei warmherzige, schwarze Äuglein aus einem freundlichen Gesicht entgegen. Behutsam und ganz, ganz vorsichtig näherte sich Canis dem gepanzerten Wesen, ja, sie kroch fast auf dem Boden, um ihre Körperhöhe auszugleichen, und das seltsame Tier nicht zu verschrecken. Angst hatte Canis nicht, denn sie spürte von dem vor ihr liegenden Tier eine wohltuende Ruhe ausgehen. Es strahlte Wärme, Frieden und Behaglichkeit aus. Nein, es würde ihr ganz bestimmt nichts böses tun, egal, wer es auch sei!

Geruhsam betrachtete Chinley das sich annähernde Geschöpf. Schildkröten in seinem Alter haben nicht all zu viele Feinde. Und doch kommt es ab und zu vor, dass eines seiner Artgenossen einen gewaltsamen Tod sterben muss. So war er sich nicht ganz sicher, ob er nicht doch auf der Speisekarte jenes Wesen srände, dass ihm Stück um Stück entgegen kam. Anfangs erschien es ihm sehr groß und Furcht einflößend, doch nun hatte es sich auf wundersame Weise etwas kleiner und damit weniger unheimlich gemacht. Chinley konnte es spüren; er fühlte den Blick des Tieres auf sich gerichtet, nahm die Neugier und das Interesse wahr, welches das pelzige Wesen voran trieb, auf ihn zukommen ließ. Nein, er glaubte nicht, dass von diesem Tier eine Bedrohung ausging!

Canis hatte ihr Ziel fast erreicht. Nur noch eine Handbreit fehlte, dass ihrer beiden Köpfe sich berührten, als mit einem Mal aus dem Nichts ein wunderschöner großer Schmetterling auf die beiden zuflatterte und aufmunternd mit seinen bunten Flügeln schlug. Dann näherte sich noch einer und noch einer... es tanzten bald so viele schmetterlinge um Wolf und Schildkröte herum, dass die Luft flirrte vom Glanz der Farbenpracht, und beide Tiere am Boden den zarten Lufthauch wahrnehmen konnten, den die schlagenden Flügel erzeugten. Ein besonders hübscher Schmetterling ließ sich sogar auf der Nase der Wölfin nieder. Canis blinzelte verwundert und konnte es nicht fassen: Was waren das wohl für anmutige Geschhöpfe? Und wie leicht sie in der Luft schwebten, sanft wie ein Hauch über ihr dahin glitten! Canis glaubte ein leises Flüstern zu hören: "Bedachtsam! Achtsam!", schienen die winzigen Geschöpfe ihr zuzuraunen.

Chinley glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Die Wölfin wandte sich vorsichtig von ihm ab und begann, sich anmutig und selbstvergessen im Takt der Flügelschläge zu wiegen, reihte sich ein in den Reigen der unzähligen Schmetterlinge, die sich mittlerweile versammelt hatten und tanzte einen Tanz, der so wunderschön anzusehen war, dass dem alten Chinley fast die Tränen kamen. Der Anblick der tanzenden Wölfin inmitten der prachtvollen Farbenvielfalt der Schmetterlinge schnürte ihm das Herz zusammen. Ihm wurde plötzlich bewusst, wie allein er doch eigentlich hier auf dieser tropischen Insel lebte, und wie lange er schon keine andere Schildkröte mehr getroffen und sich ausgetauscht hatte. Warum hatte es keine Schildkröte sein können, die ihre Ankunft heute morgen durch eine unbestimmte Vorahnung angekündigt hatte! Leise, ganz leise seufzte er einmal kurz auf, und konnte doch seinen Blick nicht von dem wundersamen Schauspiel lassen, das sich seinen Augen bot. Er überließ sich dem Übermut, dem Freudentaumel des unbekannten, pelzigen Tieres, begann sich im Takt der überirdischen Musik zu wiegen, und es wurde ihm ganz warm ums Herz. Er begriff, dass er trotz seiner Lebenserfahrung und Weisheit, die er im Laufe der Jahre erlangt hatte, noch immer neues hinzu lernen konnte, ja es sogar durfte. Das Leben war etwas wundersames, etwas ganz besonderes, und es hielt nach wie vor schönes für ihn bereit.

Das Leben in sich selbst betrachtet bietet derart vielfältige und einzigartige Augenblicke; und es ist schade, um jeden einzelnen, der versäumt wird aus Unachtsamkeit und geduldeter Oberflächlichkeit. Die Neugier muss manchmal stärker sein als die Angst, gegen Konvensionen zu verstoßen und dem daraus resultierenden Unverständnis seiner Umwelt!

Und die Moral von der Geschicht'?
Fortpflanzen können sich Wolf und Schildkröte nicht. Ein jeder von ihnen ist, was er ist und immer sein wird. Jedoch steht ihnen die Welt offen, wenn sie es wollen; schönes und einzigartiges gemeinsam zu erleben, die Welt mit neugierigen Augen staunend gemeinsam zu betrachten und sich an ihrer unterschiedlichen Einzigartigkeit zu erfreuen. Sie selbst können die Veränderung für die Welt sein, die sie sich wünschen. Wenn sie es wollen.

(Eingeschickt von "windspiel", Danke!)

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