Mondmärchen

Eines Tages, als gerade niemand hinschaute, trat der Mond an die Sonne heran. "Entschuldigung" sagte er etwas verschüchtert, "darf ich dir eine Frage stellen?"

Verwundert schaute die Sonne auf den kleinen Mond herab, sie hatte ihn gar nicht bemerkt. "Was machst du hier?" fragte sie. "Du gehörst doch in die Nacht. Der Tag gehört mir." Das wiederum schüchterte den Mond noch viel mehr ein; er nickte kurz und verschwand. Doch nach kurzer Zeit redete er sich Mut zu, schließlich hatte er ein wichtiges Anliegen, welches ihm schon seit Jahren auf der Seele brannte. Und so ging er ein zweites Mal zur Sonne.

"Entschuldigung" rief er, diesmal mit einer etwas festeren Stimme, "ich hätte dich gern einmal etwas gefragt." Die Sonne konnte sich, als sie den Mond sah, ein Lächeln nicht verkneifen, war er doch um Längen kleiner als sie selbst. Allerdings fand sie es niedlich, wie er da stand und zu ihr hinaufblickte.

Sie beugte sich zu ihm herunter. "Wie kann ich dir denn helfen?" "Nun, ich frage mich schon seit Jahren, wieso ich nur in der Nacht da sein darf, und du am Tag. Und warum du weit länger zu sehen bist als ich. Das finde ich irgendwie gemein" sagte der Mond und schaute die Sonne erwartungsvoll an.

"Lieber Mond, das kann ich dir auch nicht sagen. Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht wirklich" erwiderte die Sonne. "Ich bin am Himmel zu sehen, gebe den Menschen Wärme und mache das Leben auf der Erde erst möglich. Deshalb muß ich am Tag da sein, weil sich das Leben am Tag abspielt." Mit diesen Worten wandte sie sich ab.

Dem Mond war das natürlich noch nicht genug, und er wollte sich mit dieser nichtssagenden Äußerung nicht zufrieden geben. Aber die arrogante Art der Sonne verängstigte ihn, und er beschloß, ein wenig Mitleid in ihr zu wecken. Erneut sprach er sie an: "Aber ist dir schon einmal aufgefallen, daß mich die Menschen auch brauchen? Sie haben aber nicht viel von mir, weil sie mich nur ein paar Stunden sehen können, und nachts schlafen die Menschen immer. Das finde ich etwas unfair" chniefte der Mond und drückte ein paar Tränen hervor, die sich auf ihren langen Weg zur Erde machten. Doch er schien mit seiner Mitleidsmasche keinen Erfolg zu haben, denn die Sonne wandte sich von ihm ab.

Schmollend zog sich der Mond also zurück. Mittlerweile hatte sich der Tag dem Ende zu geneigt, und die Sonne wurde glutrot. Der Mond ignorierte dieses Bild, welches er sonst jeden Abend voller Begeisterung bewundert hatte, und hatte eigentlich keine Lust mehr, wieder seinen Platz am Himmel einzunehmen und zu beobachten, wie sich die Menschenkinder nach und nach in das Traumland begaben. Er versteckte sich hinter einer großen Wolke und ließ die Menschen allein.

Als er dort nun einige Zeit traurig und verstört gesessen hatte, hörte er aus dem Nichts eine schwache Stimme: "Wo bist du?". Der Mond fühlte sich nicht angesprochen, trotzdem schaute er neugierig in den Nachthimmel, wo sich einige Sterne eingefunden hatten. "Wen sucht ihr?" rief er den Sternen zu. Einer von ihnen kam näher. "Dich!" antwortete der Stern mit einem Lächeln im Gesicht. "Wir sind doch nur wegen dir hier". "Wegen mir?" fragte der Mond, "wer braucht mich schon? Das Leben findet tagsüber statt, nachts schlafen die Menschen nur, ich stehe nur zur Zierde am Himmel. Aber damit ist Schluß, es bringt ja nichts". Mit diesen Worten kuschelte sich der Mond wieder in seine Wolke und fing an zu weinen.

Der Stern aber ließ sich so einfach nicht abspeisen. "Hast du schon einmal genau zur Erde geschaut? Ich habe noch nicht genau gezählt, es sind auch nicht besonders viele, aber ich kann ein paar Menschenkinder sehen, die nur auf dich warten!" Lustlos stieg der Mond wieder aus seiner Wolke empor, warf aber trotzdem einen kurzen Blick auf die Erde. Und tatsächlich, sie standen vor der Tür, saßen am Fenster, lagen wach und blickten nur an den Himmel. "Ob sie wirklich auf mich warten?" sagte der Mond zu sich selbst und war fast ein bißchen gerührt.

Doch sein Gespräch mit der Sonne hatte ihn zu sehr mitgenommen. "Für die paar Stunden lohnt es sich doch nicht, an den Himmel zu steigen" sagte er zu den Sternen, die mittlerweile zahlreicher geworden waren und erwartungsvoll in einem Kreis um ihn herumstanden. "Außerdem bin ich viel zu schwach, mein Licht ist gegen die Sonne ein Nichts, es wärmt nicht, und zum Leben braucht man mich auch nicht. Wäre ich nicht da, es würde sicher niemandem auffallen". Da waren die Sterne sprachlos, sie alle wollten dem Mond irgendwie klarmachen, daß dem alles nicht so ist, aber es schien niemand die richtigen Worte zu finden.

Schließlich faßte der Stern, der ihn vorher schon angesprochen hatte, seinen ganzen Mut zusammen, und sprach ihm vorsichtig Mut zu: "Wenn dich niemand vermissen würde, dann stünden dort unten nicht so viele Menschen und würden warten. Sie brauchen dich genauso zum Leben wie die Sonne, nur du kannst ihnen nämlich Trost spenden." "Wie das?" fragte der Mond und wischte sich verlegen die Tränen aus den Augen. "Wie kann ich die Menschen trösten?" "Das ist ganz einfach" erwiderte der Stern und zwinkerte ihm zu. "Wie du ja vorhin schon gesagt hast, schlafen die meisten Menschen nachts. Es gibt aber ein paar, die dies nicht tun. Sie sind in der Minderheit und mit ihren Problemen ganz allein, weil sie niemanden haben, dem sie sie erzählen können. Schließlich schlafen ja alle. Das sind die Mondkinder, die abends am Fenster stehen und nur auf dich warten, weil sie wissen, daß du für ein paar Stunden da sein wirst." Der Mond war sichtlich bewegt von der Ansprache des Sterns. So genau hatte er darüber noch nie nachgedacht. "Aber ich bin doch zu schwach, und ich würde doch gerne viel länger für diese Mondkinder da sein. Aber dann funkt mir die Sonne ja wieder dazwischen!" Jetzt war der Mond völlig verzweifelt, und fing wieder an zu weinen.

Da schoben sich ein paar Wolken vor den weinenden Mond und umarmten ihn, so daß ihm ganz warm wurde. Verwirrt blickte er auf. Der Stern nahm ihn in den Arm und flüsterte: "Die Wolken wollen nicht, daß deine Kinder dich weinen sehen. Deswegen verdecken sie dich. Und daß du nur ein paar Stunden da bist, macht dich erst recht zu etwas besonderem; wärst du immer da, würden sich die Menschen an dich gewöhnen und dich nicht mehr beachten." "Aber mein Licht ist doch viel zu schwach" rief der Mond verzweifelt, "wie kann da für alle Mondkinder genug Wärme übrig bleiben?" Da brach der Stern in schallendes Gelächter aus. "Hast du dich denn in all den Jahren niemals gefragt, warum wir Sterne dich jede Nacht an den Himmel begleiten? Selbst wenn du einmal nicht genug Kraft hast, sind wir da, um den Menschen zu zeigen, daß es dir noch gut geht."

Jetzt war der Mond auch überzeugt. Er ließ sich von ein paar Sternen an die Hand nehmen, und gemeinsam traten sie den Weg an den Nachthimmel an. Und wenn man ab und zu abends ganz genau hinschaut, dann kann man sehen, wie sich der Mond beschämt ein paar Freudentränen aus seinem Gesicht wischt und seinen Kindern zuwinkt, die auf der Erde jede Minute mit ihm genießen...

(Eingeschickt von Simon, danke!)

Kommentare zu diesem Artikel:

Gast
04.02.2021 16:59 Uhr
Ich mag dieses Mondmaerchen.



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