Das Chaos
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Sie sitzt am Wegesrand. Ihre äußere Erscheinung erinnert mich an den Bettler, den ich erst vorgestern in der Fußgängerzone gesehen habe. Doch ihre Augen und ihr Lächeln haben eine ganz andere Wirkung. Sie strahlt Selbstbewusstsein und Freude aus. Ihre Augen funkeln bei meinem Anblick, als hätte sie ihr ganzes Leben lang hier gesessen und auf mich gewartet. Das tiefe braun ihrer Augen zieht mich in den Bann dieses Mädchens. Sie sieht mich an. Mit einem Blick, der mir das Gefühl gibt vollkommen nackt vor ihr zu stehen. Ich kann meine Augen nicht von ihr wenden. auch lassen sich meine Füße nicht mehr bewegen und wie angewurzelt stehe ich dort und starre die junge Frau an, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Ein paar alte Menschen gehen an uns vorbei. Eine Dame fragt mich, warum ich denn schon hier sei, ich hätte doch noch mein ganzes Leben vor mir. Durch diesen Ausspruch gezwungen blicke ich in das faltige Gesicht. Sie dreht sich um und geht auf ein lebloses Haus zu. Ich kann meinen Augen nicht trauen, als sie durch das Gartentor geht springen die Fensterläden auf und ich höre Kindergeschrei und die Stimme eines Mannes. Noch einmal dreht sich die Frau auf der Schwelle um und ich sehe in ein jugendliches Gesicht. Aus ihrem kurzen weißen Haar sind prächtige blonde Locken geworden. Was ist das hier nur für eine seltsame Welt?! Sie drückt die Haustürklinke runter und wird von ihrem Mann und Zwillingen empfangen. Glücklich wie nach langer Trennung umarmen sie sich und der Frau rinnt eine Träne über die Wange. "Gefällt es dir?!" fragt mich das Mädchen. Ihre klare, angenehme Stimme klingt nah an meinem Ohr, doch wie durch einen dichten Nebel verschleiert. Wieder sehe ich sie an. Sie sitzt immer noch am Weg, in einer Sitzhaltung, als hätte sie Angst vor den verachtenden Blicken der Menschen. Ihr Anblick und ihre dazu gegensätzlichen, durchdringenden Augen bringen mich durcheinander. Sie ist mir so vertraut, dass es mir fast schon Angst macht. Alles an ihr ist widersprüchlich!!! Sie scheint alles über mich zu wissen. Sie spricht über Dinge, die ich nie jemandem erzählt habe. Es ist erstaunlich, doch das macht mir keine Angst. Sie redet darüber, als könnte sie es selber nachempfinden. Sie spricht von meinen Träumen und den damit verbundenen Gefühlen. Sie versucht mir alles zu erklären, meine tiefsten Empfindungen. Sie erklärt mir mein Innerstes mit einer Geduld, die bemerkenswert ist. Ich brauche keine Fragen zu stellen, sie scheint sie alle schon zu wissen, noch bevor ich sie mir selber stellen kann. Ich stehe wieder da, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Fasziniert blicke ich auf das zusammengekauerte Wesen, das mir meine Welt verdeutlicht. Die Geduld und ihr Verständnis spiegeln sich in der Ruhe mit der sie zu mir spricht. Verdeutlicht durch ihre tiefen Augen, in denen ich versinke, wie in einem Meer. Sie strahlt durch ihre wunderbaren Gegensätze eine Magie aus, die mich wie ein Kind werden lassen, das gespannt einer Geschichte lauscht. Nur ist es kein Märchen, sondern mein Leben. Es ist mein Leben, das ich aufgegeben habe. Und das Mädchen, das dort vor mir sitzt ist das Chaos in mir, das mich zu diesem letzten Schritt getrieben hat. Doch diesen letzten Schritt aus meinem irdischen Leben als Mensch bereue ich nicht. Da steht das Chaos auf und nimmt meine Hand. Ohne zu widersprechen folge ich ihr. Sie geht auf ein Haus zu, das mit einer hohen Hecke umgeben ist. Vor dem Eingang lässt sie meine Hand los und sagt mit einem glücklichen Lächeln: "Willkommen zu Hause an dem Ort, an dem du glücklich wirst" Mit großer Neugier in mir öffne ich das Tor. Voller Erstaunen blicke ich auf eine riesige Wiese. So groß wie ein Golfplatz. Mitten drin steht ein kleines Haus. Mit zwei unscheinbaren Sitzen auf dem Dach. Direkt neben dem Schornstein. Schon jetzt weiß ich, dass ich dort die meiste Zeit verbringen werde. Mit Lena - denn von dort sieht man all die Sterne, in die mein Paradies gehüllt ist. (eingeschickt von Daniela, Danke!)
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