Irgend etwas stimmte nicht. Die Dichterin konnte es jeden Tag ein bisschen mehr spüren. Es fing damit an, dass sie müde war, erschöpft, jeden Morgen ein bisschen mehr. Immer öfter lag sie mit offenen Augen da, bewegungslos und unerbittlich erschöpft. Ihre Bewegungen wurden langsamer. Sie schritt immer noch hochaufgerichtet durch die Gange doch sie spürte, dass ihre Kraft dabei immer mehr schwand. Selbst ihre Mimik wurde langsamer, verlor an Bewegung, das Lächeln konnte sich immer seltener auf ihren Zügen durchsetzen. Ihre Sehkraft ließ nach. Alles um sie schien ganz langsam zu verblassen, die Farbe floss langsam aus Allem wie der Künstler Farbe von der Leinwand wäscht die dort keine Berechtigung hat. Und sie verlor Worte. Eines nach dem Anderen. Immer öfter schwiegen ihre Lippen gegenüber allem Lebendem. Selbst in ihr verschwanden Worte, sie fühlte nur, dass da Worte waren, die sie gekannt und vergessen hatte. Und sie hatte das Gefühl als würden ihre Emotionen sich tief in sie zurück ziehen, wie leuchtende rote Mohnblüten in ihren Kapseln verschlossen. Die Dichterin fragte sich ob sie sich auflöste oder ob die Welt immer mehr verblasste. Die Dichterin zog sich immer weiter in den Wald zurück, weit weg von allem Leben. Das Licht schmerzte in ihren Augen und die Berührungen der Menschen brannten auf ihrer Haut. Draußen in der Einsamkeit fühlte sie sich sicherer. Und dennoch schritt, was immer es auch war, was da mit ihr geschah, immer weiter voran. Ihre Schmerzen wurden schlimmer. Wie Feuer, das in ihr brannte. Irgend etwas musste geschehen.
Sie erinnerte sich an etwas, dass sie als Kind gehört oder gewusst hatte. Die Frau beim See. Oder hieß es im See? Die Dichterin schritt langsam durch den Wald, tiefer in das Dunkel und erreichte eine Lichtung auf der das Sonnenlicht weiche Muster in das Moos zeichnete. Licht und Farben inmitten der fast schon grauen Wahrnehmungen der Dichterin. Der See lag vor ihr, sanftes dunkelblaues Wasser umrahmt von Wasserpflanzen und Sumpfdotterblumen. Lichtreflexe auf der Oberfläche spiegelten sich gegenseitig in einem Spiel aus Wasser, Licht und Farbe. Plötzlich legte sich ihr eine Hand auf die Schulter. Als die Dichterin sich umwandte sah sie sich einer Frau gegenüber die ihr merkwürdig bekannt schien.
Ein Paar sanfte aber sehr starke helle Augen sahen sie an, wissend und irgendwie altbekannt. Dunkle Locken fielen um ihr Gesicht wie ein Umhang sich um die Schultern schmiegt und ihre Gesichtszüge wirkten beinahe ebenmäßig. Irgend etwas kannte die Dichterin an dieser so in sich ruhenden Frau. Irgend etwas verband sie mit ihr doch sie konnte nicht sagen was. Schweigend hatte diese schöne Frau sich auf einem Stein am Ufer des kleinen Sees niedergelassen und mit dem dunklen Wasser hinter sich, sah sie aus wie eine Wasserspiegelung. Und unwahrscheinlich bekannt und vertraut. Die Dichterin stand vor ihr und sah ihr in die Augen. `Hilf mir, bitte.` Mehr sagte die Dichterin nicht. Sie fühlte, dass sie nichts mehr erklären musste, die Frau die ihr gegenüber saß wusste es längst.
Und die Frau begann zu sprechen, sanft und bestimmt: `Meine Schwester` sprach sie, und diese Worte klangen so fremd in den Ohren der Dichterin, `wenn du es nicht bewerkstelligen kannst diesen Vorgang zu ändern, dann wirst du erstarren. Deine Stimme wird völlig verstummen, deine Worte davon wehen, deine Augen werden sich vollends schließen und dein Körper wird zu Stein werden. Wenn du es soweit kommen lässt gibt es kaum noch ein Zurück. Irgendwann wirst du zu Stein werden und der Schmerz in deinem Inneren wird alles sein was du fühlst.` Sie schwieg einen Moment und setzte dann leise wie ein Windhauch, fast unhörbar hinzu: `Und ich werde ganz fort sein.` Ihre Worte trafen die Dichterin hart und ihre trockenen Augen begannen zu schmerzen von Tränen die sie nicht weinen konnte. `Was soll ich tun?` Die Frau schüttelte den Kopf. `Das kann ich dir nicht sagen. Die Lösung liegt in dir. Gib dir die Zeit sie zu finden.` `Ich habe keine Zeit. Ich habe Angst und ich werde zu Stein - eine Figur im Garten. Ich habe keine Zeit.` Die Augen der Frau vom See waren auf die Dichterin gerichtet. Sie sah sie an, mitfühlend. Der Dichterin schien ihr Verständnis beinahe aufdringlich.
Die Frau vom See deutete in die Richtung aus der die Dichterin zu ihr gekommen war. Noch bevor sie sich umdrehte fühlte die Dichterin Kälte in ihrem Rücken. Als sie sich umwandte sah sie eine alte in schmutzigbraune Gewänder gehüllte Frau, die ein kleines unablässig weinendes Kind an der Hand hielt. Die Beiden sahen sich keine Sekunde lang an, standen nur nebeneinander unbeweglich da und starrten die Dichterin an. Die Kleine hatte schwarze Spuren von Schmutz in ihrem Gesicht über das beharrlich und ohne ein Geräusch Tränen flossen. Ihre Augen waren gerötet und ihre Lider gesenkt, sie sah nicht auf. Die Haare des Kindes waren verfilzt und sie war in die selben Gewänder gehüllt wie die alte Frau deren Gesicht starr und von Falten gezeichnet war. Der Körper der alten Frau war gebeugt und ihre Augen glänzten in einer Mischung aus Hass, Wut, Resignation und tiefem Schmerz. Die Dichterin zuckte zurück. Zuckte zurück vor den Beiden und zuckte zurück vor diesem Gefühl der Bekanntschaft, dass sie genauso stark gegenüber dieser Beiden befiel wie gegenüber der Frau vom See. Die alte Frau öffnete im selben Moment ihre Lippen wie das Kind. Beide sagten nur ein Wort, gleichzeitig und bestimmt. `Schwester.` `Mutter.` Die Dichterin taumelte, verlor den Halt und fiel. Stürzte auf den Waldboden und kauerte da wie ein erschrockenes Wild.
`Du verstehst es nicht, nicht wahr?` Es war die sanfte Stimme der Frau vom See die sich an die Dichterin richtete, die im Moos kauerte und auf den Boden starrte.
`Wir alle sind Du. Ich bin dein Selbstvertrauen, Dein Selbstwertgefühl, deine Hoffnung, deine Kreativität. Ich bin die, die lacht und dichtet und zeichnet und singt. Ich bin ein Teil von dir. Und meine dunkle Schwester, die dort am Waldrand steht, ist auch ein Teil von dir. Sie ist dein Schmerz, deine Angst aber auch deine Wut und dein Hass. Sie ist ein Teil von uns aber manchmal wird sie so groß, dass ich im See verschwinde. Ich habe schon sehr viel Zeit im See verbracht... Das kleine Mädchen an ihrer Hand, die auch dort im Schatten steht ist deine Vergangenheit. Auch sie ist ein Teil von dir. Aber du hast die Kleine so lange allein gelassen, dass meine dunkle Schwester schließlich die einzige war, die sie an die Hand nahm. Die Beiden sehen sich nie an, sie halten sich nur fest, damit das kleine Mädchen nicht völlig verloren geht. Wenn du versuchst, dich der Kleinen anzunehmen, spürst du die Kälte und den Schmerz meiner dunklen Schwester weil sie zusammen gehören. Und manchmal erinnert dich meine dunkle Schwester einfach so an sie, weil sie nicht möchte, dass du das kleine Mädchen weiter wegschiebst. Du hast die Tränen im Gesicht der Kleinen gesehen und sie fallen ohne ein Geräusch denn du hast ihr die Stimme genommen. Du hast so lange nicht mit ihr gesprochen, dass sie es verlernt hat. Du musst ganz von vorne anfangen, ihr zu zeigen wie man spricht. Du musst dich um sie kümmern. Es ist deine Tochter, meine Tochter und je weiter sie von uns verschwindet, desto mehr verblasse ich und desto mehr wirst du zu Stein. Du lässt nicht zu, dass ich meine Schwester oder unsere Tochter berühre, denn du hast Angst, ich nehme Schaden. Aber ohne sie kann ich auch nicht existieren. Du musst dich um das kleine Mädchen kümmern. Es lehren zu sprechen und zu lächeln.` Die Dichterin sah immer noch unverwandt auf den Waldboden: `Aber sie ist schmutzig und verwahrlost und ich finde sie scheußlich.` Die Frau vom See senkt den Kopf und sprach weiter: `Unter ihren dunklen Lumpen trägt sie ein rotes Kleidchen, doch wie sollst du das aus der Entfernung sehen? Wie soll sie nicht verwahrlost sein wenn du sie nicht annimmst? Sie hatte einst goldene Locken, doch niemand hat sie gekämmt, nun sind sie grau von Staub und verknotet wie Spinnweben. Wie soll sie den Schmutz aus ihrem Gesicht wischen, wenn sie sich mit aller Kraft an meiner Schwester festklammern muss, um nicht verloren zu gehen?` Die Stimme der Frau vom See klang nun fast flehend: `Du siehst sie nicht einmal an...
Die Dichterin sah im Moment gar niemanden an. Sie kauerte immer noch auf dem Waldboden, den Kopf gesenkt und das Moos zerfloss vor ihren Augen zu einer schwammigen Fläche voller Grün, das zusehends verblasste. Zwei Worte entrangen sich ihrer Brust, flehend und verzweifelt: `Hilf mir!` Die Frau vom See schüttelte fast unmerklich den Kopf. `Ich kann diesen Weg nicht für dich gehen. Ich kann nicht zu dir kommen, du musst zu mir kommen. Nur du kannst das aus dir machen, was du möchtest, es ist allein deine Entscheidung. All das hier ist in dir, die Dunkelheit ebenso wie das Licht. Nur du kannst das Licht, das sich immer mehr verdunkelt wieder entdecken. Nur du...` Ihre Worte wurden leiser und als die Dichterin sich dazu durchrang den Kopf zu heben, war die Frau vom See genauso wie die Alte und das kleine Mädchen verschwunden.
Es war allein ihre Entscheidung was sie nun tun würde und was geschehen würde...
(eingeschickt von Nina, danke!)
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