Ursachen, Folgen und Präventionsmöglichkeiten von sexuellem Missbrauch
Sexueller Missbrauch im Kindesalter
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Ursachen, Folgen und Präventionsmöglichkeiten
Autorin: Tina Schneider - Pädagogische Hochschule Heidelberg 2001
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Ich werde es sagen - Geschichte einer mißbrauchten Kindheit
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Inhaltsübersicht
1. Einleitung
Sexueller Missbrauch von Kindern ist in den letzten Jahren zu einem heiß diskutierten Thema geworden. Berechtigte Empörung und Aufregung begleiten jeden Fall von sexuellen Übergriffen auf Kinder, der der Öffentlichkeit bekannt wird. Sexueller Missbrauch gehört zum Lebensalltag sehr vieler Mädchen und Jungen. Man kann davon ausgehen, dass etwa jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge sexuell missbraucht wird. Der Täter ist nur in Ausnahmefällen der "fremde böse Mann" vor dem Mädchen und Jungen gewarnt werden. Der Missbrauch findet in der Regel innerhalb der eigenen Familie und im nahen sozialen Umfeld der Kinder statt. Es sind die Menschen, die das Mädchen oder der Junge vielleicht liebt, die das Kind kennt und denen es vertraut.
Alle Fachleute, die sich näher mit der Thematik befassen sind sich einig, dass gegen das Inzesttabu hunderttausendfach verstoßen wird, dass jedoch das Darüber-Sprechen ein Tabu ist. In Deutschland ist es vor allem dem Engagement der Frauenbewegung zu verdanken, dass das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern mehr und mehr in die Öffentlichkeit gedrungen ist. Nach einer Untersuchung des Bundeskriminalamtes von 1985 werden jährlich 300.000 Kinder sexuell missbraucht. In etwa 70 - 75% der Fälle sind die leiblichen Väter, und andere väterliche Bezugspersonen, die ihre Kinder missbrauchen. Es wurde ebenso aufgedeckt, dass nicht Mädchen im Pubertätsalter am häufigsten Opfer sexuellen Missbrauchs werden, sondern Mädchen im Alter von deutlich unter zehn Jahren. Die höchste Missbrauchsrate findet sich bei Kindern im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren.
Die Fakten sprechen dafür, dass jeder Grundschullehrer während seiner Berufstätigkeit konkret mit sexuell missbrauchten Schülern konfrontiert wird. Oftmals sind Lehrer neben den Eltern die einzigen Erwachsenen zu denen die Kinder regelmäßig Kontakt haben und möglicherweise Vertrauen aufbauen können. Die Funktion der Schule ist sicherlich nicht, dass jeder Lehrer als Therapeut oder Sozialarbeiter arbeitet. In der Schule gibt es vielmehr die Möglichkeit, durch präventive Unterrichtsinhalte dem sexuellen Missbrauch entgegenzuwirken.
Lehrer sollte sich mit dieser Thematik auseinandersetzen und für versteckte Hinweise bei sexuell missbrauchten Mädchen und Jungen sensibilisiert werden. Die Hilferufe misshandelter Kinder sind sehr leise und oft verschlüsselt. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen durch dieses Verschließen werden den Opfern Wege zur Hilfe verbaut. Diese Kinder können sich meist aus eigener Kraft nicht Hefen. Die seelischen und körperlichen Schäden zeichnen sie ein Leben lang. Nur wenn wir unsere Augen und Ohren öffnen und uns für diese Kinder einsetzen, gibt es eine Chance.
Die Mädchen und Jungen werden überredet, genötigt und gezwungen, durch alle erdenklichen Handlungen der sexuellen Befriedigung des Mannes zu dienen und das nur höchst selten begrenzt auf einmal, sondern wiederholt und oft über Jahre hinweg. Missbrauchte Kinder werden ihrem Körper und ihrer Seele enteignet und werden ihr ganzes Leben darunter leiden, wenn sie keine Hilfe erhalten.
Bei sexuellem Missbrauch von Kindern handelt es sich immer um eine Gewalttat und niemals um ein Kavaliersdelikt, wie so viele Missbraucher es gerne gesehen haben möchten. Sexueller Missbrauch ist nicht eine gewalttätige Form von Sexualität, sondern eine sexuelle Form von Gewalttätigkeit.
Die hohen Dunkelziffern bei Kindesmisshandlungen, sexuellem Missbrauch von Kindern und Kinderpornographie zeigen, dass unsere Gesellschaft noch nicht in ausreichendem Maße bereit ist, Hilferufe und Signale der Kinder aufzunehmen und Hilfe anzubieten. Der Bericht einer Leiterin einer Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Kinder besagt, dass Kinder bis zu siebenmal ihre Not Erwachsenen erzählen müssen, bevor ihnen Glauben geschenkt und geholfen wird.
Die hier vorliegende Arbeit habe ich aufgeteilt in einen theoretischen Teil, der über die Problematik des sexuellen Missbrauchs einen Überblick geben soll, und in einen Teil der sich mit der Praxis beschäftigt. In diesem Teil werden Grundteil für präventive Erziehung sowie Material zur erzieherischen Präventionsarbeit beschrieben.
Im Theorieteil werden nach dem Versuch einer Definition zunächst die juristischen Aspekte und die verschiedenen Ausprägungsformen dargestellt. Im anschließenden Kapitel sollen die gängigsten Erklärungsansätze vorgestellt sowie mögliche Ursachen aufgezeigt werden. Daraufhin soll sowohl die Situation der sexuellen Missbrauchsfälle in Deutschland als auch die Charakteristik der Opfer und Täter dargestellt werden. Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit den Symptomen und Folgen des sexuellen Missbrauchs, in dem neben anderen zwischen physischen und psychischen Anzeichen unterschieden wird. Im letzten Kapitel werden sowohl primäre als auch sekundäre Präventionsmöglichkeiten vorgestellt.
2. Begriffserklärung
Inzwischen gibt es eine Reihe von Begriffen, die entweder bestimmte Aspekte zum Thema hervorheben oder zum Teil synonym verwendet werden: Sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt, sexuelle Ausbeutung, sexuelle Grenzüberschreitung, sexuelle Belästigung, sexuelle Misshandlung.
Unter dem Begriff sexueller Missbrauch haben vor ungefähr 10 Jahren betroffene Frauen aus Amerika ihre Gewalterfahrung aus der Kindheit in die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland gebracht. Er beinhaltet eine wörtliche Übersetzung zum amerikanischen sexual abuse.
Der Begriff sexueller Missbrauch hat sich in der Öffentlichkeit eingebürgert. Obwohl zu bemerken ist: wenn von einem sexuellen Missbrauch gesprochen wird, setzt dies möglicherweise voraus, dass es auch einen akzeptablen sexuellen Gebrauch von Mädchen und Jungen gibt. Also könnte man von dem Begriff sexuelle Gewalt" sprechen:
Es gibt keinen Begriff, der umfassender und differenzierter sowohl die Analyse der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse als auch den Erfahrungshintergrund der Betroffenen wiederspiegelt und so unmissverständlich den Zusammenhang von Gewalt und Sexualität benennt.
2.1 Definition in der Fachliteratur
In der Fachliteratur und in den wissenschaftlichen Untersuchungen zum Themenbereich sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche" werden sehr unterschiedliche Definitionen verwendet. Diese reichen von sehr eng gefassten, bei der nur durch Drohung oder körperliche Gewalt erzwungenen sexuellen Übergriffe mit Körperkontakt als sexueller Missbrauch gelten, bis hin zu solchen, bei denen jede Handlung (auch Blicke und Worte), die ein Kind als sexuellen Missbrauch erlebt, sexueller Missbrauch ist.
Im wesentlichen wurde sexueller Missbrauch bis Heute aus vier Blickwinkeln betrachtet und definiert: aus individualisierenden, der psychoanalytischen, der familientheoretischen und der feministischen Perspektive.
Definition beinhaltet ein Wissen um das Erleben und die Sicht sexuell ausgebeuteter Mädchen und Frauen und ein Wissen um die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern sowie zwischen den Generationen.
In der Fachliteratur gibt es keine Einheitlichkeit über den Begriff sexueller Missbrauch von Kindern. Um eine umfassende Definition zu erhalten, die alle erforderlichen Aspekte beinhaltet, möchte ich im Folgende verschiedene Definitionen aufzählen, die dazu erforderlich erscheinen:
Sexueller Missbrauch ist immer eine Gewalttat. Diese Form der Gewalt reicht von der Nichtachtung der persönlichen Integrität bis zur Versklavung. Frauen und Mädchen werden auf ein frei verfügbares Sexualobjekt reduziert, (auch Jungen, seltener Männer) die Zerstörung ihrer Persönlichkeit wird in Kauf genommen. Persönliche Grenzen, der eigene Wille, sowie die Würde und das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit werden missachtet, Vertrauen und Sicherheit zerstört und das Gefühl der Zugehörigkeit zur Welt außer Kraft gesetzt. Sexueller Missbrauch ist damit ein zentraler Angriff auf die Identität".
Sexuelle Gewalt an Kindern ist immer ein Ausnutzen von Macht und Autorität und von körperlicher oder beziehungsbedingter Überlegenheit. Abhängigkeit und Vertrauen der Mädchen und Jungen werden ausgenutzt, Kinder werden massiv unter Druck gesetzt und zur Geheimhaltung verpflichtet. Sie werden damit zur Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilt".
Der Begriff ´sexuelle Gewalt an Kindern´ beinhaltet das ganze Spektrum sexueller Gewalthandlungen, von scheinbar harmlosen Berührungen bis zu den unterschiedlichen Formen der Penetration".
Dazu gehören auch das Berühren und die ´fachmännischen´ Begutachtungen der sich entwickelnden Rundungen, das betasten der Brust oder des Brustansatzes, verbunden mit abschätzigen oder auch wohlwollenden Qualitätsurteilen, dass das Mädchen jetzt zur Frau und somit als Sexualobjekt attraktiv wird".
Rosemarie Steinhage bezieht in ihrer Definition des sexuellen Missbrauchs auch die Absicht des Täters mit ein: Sexueller Missbrauch beginnt dort, wo Männer sich bewusst am Körper des Mädchens befriedigen oder sich von ihnen befriedigen lassen. Sexuelle Handlungen an Mädchen und Jungen sind vom Täter immer beabsichtigt. Sexueller Missbrauch ist niemals eine zufällige Begebenheit, sondern immer geplant. Sexuelle Übergriffe auf Mädchen und Jungen passieren Männern nicht aus Versehen, durch Zufall oder unbemerkt, sondern sind Handlungen, die der Täter sich überlegt hat und bewusst ausführt. Voraussetzung für den sexuellen Missbrauch durch eine nahestehende Person ist das Vertrauen des Mädchens und Jungen zum Täter. Darüber hinaus intensivieren Täter die Beziehungen durch emotionale und körperliche Aufwertung ihrer Person. Sexueller Missbrauch bedeutet, dass der Täter das Vertrauen, die Abhängigkeit und Sexualität des Kindes missbraucht und kindliche Gefühle für seine Interessen benutzt. Sexuelle Übergriffe geschehen immer unter Ausnutzung der Macht und Autoritätsstellung seitens der Täter. In diesem Sinne ist sexueller Missbrauch immer Gewaltanwendung, auch wenn keine körperliche Gewalt zur Durchsetzung der Interessen des Täters notwendig ist".
Eine andere Definition des sexuellen Missbrauchs von Kindern, die auch von den Experten allgemein akzeptiert wird und oft zitiert wird stammt von C. Henry Kempe, der als anerkannte Autorität auf diesem Gebiet gilt: Sexueller Missbrauch von Kindern findet dann statt, wenn Kinder oder Adoleszente, die noch keine sexuelle Reife erreicht haben, in sexuelle Handlungen einbezogen werden, die sie noch nicht richtig verstehen und beurteilen können und denen sie, weil es ihnen an Reife fehlt, nicht klaren Verstandes zustimmen können; oder aber es handelt sich um sexuelle Handlungen, die die sozialen Tabus von Familienrollen verletzen".
Wie man sieht, ist die zunächst banal erscheinende Frage Was ist sexueller Missbrauch?" nicht so leicht zu beantworten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Definitionsfrage ist folglich sowohl für die öffentliche Definition als auch für wissenschaftliche Untersuchungen von besonderer Bedeutung. Zum einen, weil nur so die verschiedenen Untersuchungsergebnisse eingeordnet und verglichen werden können, was zu mehr Sachlichkeit in der öffentlichen Kontroverse führen könnte. Zum anderen, weil dadurch die Voraussetzungen der Untersuchungen transparenter werden. Als erster Schritt auf dem Weg zu einer Definition sexuellen Missbrauchs an Kindern werde ich deshalb kurz einzelne Definitionskriterien vorstellen.
2.2 Die Definitionskriterien
wissentliches Einverständnis
Das wissentliche Einverständnis wird von den meisten Sozialwissenschaftlern als Definitionsgrundlage verwendet. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist, dass bei Erwachsenen nach geltendem Recht eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung dann gegeben ist, wenn eine Person an einer anderen Person ohne deren Zustimmung sexuelle Handlungen ausführt. Bei Kindern ist die Frage nach der Zustimmung sehr viel schwieriger zu beantworten. Wenn ein Mädchen der Aufforderung ihres Onkels, sich für ihn auszuziehen nachkommt kann man dann von Zustimmung des Mädchens reden?
Die zwei wesentlichen Voraussetzungen des wissentlichen Einverständnisses sind bei Kindern nicht erfüllt. Kinder haben nicht den gleichen Informationsstand wie die Erwachsenen. Sie können die soziale Tragweite sexueller Beziehungen nicht erfassen. Kinder sind unerfahren, haben einen anderen Entwicklungsstand. Sie können nicht beurteilen, wer für sie der ´richtige´ Sexualpartner sein könnte. Kinder wissen nicht, wie eine sexuelle Beziehung normalerweise abläuft. Die Liebe und Zuneigung Erwachsener ist für die Kinder etwas Schönes, Wichtiges. Sie brauchen diese Liebe und Zuneigung. Außerdem sind Kinder auch rechtlich von Erwachsenen abhängig. Es entsteht zwischen Erwachsenen und Kindern ein strukturelles Machtgefälle. Die Täter nutzen ihre Macht und Überlegenheit aus, um ihre Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen. Die Mädchen und Jungen werden zu Sexualobjekten degradiert. Fazit: Demnach ist jeder sexuelle Kontakt zwischen Kindern und Erwachsenen sexueller Missbrauch und der Aspekt des wissentlichen Einverständnis kann deshalb kein Kriterium für eine Definition sein.
Die Folgen des sexuellen Missbrauchs als Definitionskriterium Sexueller Missbrauch sollte unabhängig von den möglichen Folgen definiert werden, denn nicht jeder sexuelle Missbrauch muss unbedingt traumatisch sein. Es gibt Kinder, deren Psyche fähig ist sexuellen Missbrauch ohne Beeinträchtigungen der seelischen und sexuellen Entwicklung zu verarbeiten. Dazu kommt, dass längst nicht alle Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten auf sexuellen Missbrauch reagieren.
Missachtung des kindlichen Willens
Ein entscheidendes Kriterium für einen sexuellen Missbrauch scheint zu sein, dass die sexuellen Handlungen gegen den Willen des Kindes ausgeführt werden. Eine Definition darf aber nicht nur davon abhängig gemacht werden, ob die sexuellen Kontakte gewollt oder ungewollt sind. Zu sagen, sie hätten es gewollt kann für die Opfer nämlich ein wichtiger Schutzmechanismus sein, sie entwickeln so ihre eigene Überlebensstrategie und geben sich der Illusion hin, sie hätten Einfluss auf die Situation. Daraus lässt sich schlie en, dass es falsch wäre sich auf eine Definition zu stützen, die ausschließlich darauf beruht, dass es sich nur dann um sexuellen Missbrauch handelt, wenn die sexuelle Handlung gegen den Willen des Kindes geschieht.
Sich missbraucht fühlen
Genauso zu bemängeln ist die Methode, nur Erlebnisse als sexuelle Gewalt zu definieren, durch die sich Menschen sexuell missbraucht fühlen. Es kommt vor, dass Mädchen und Jungen, die eindeutig sexuell missbraucht wurden, sich nicht gerne als Opfer fühlen. Viele Menschen lehnen es strikt ab, sich als Opfer sexuellen Missbrauchs zu sehen. Tatsache ist aber, dass der Missbrauch stattfand.
"Sexueller Missbrauch kann stattfinden auch wenn das Opfer sich nicht missbraucht fühlt."
Altersunterschied zwischen Opfer und Täter
In verschiedenen Untersuchungen wird ein Altersunterschied von 5 Jahren zwischen Opfer und Täter als Definitionskriterium verwendet. Jeder sexuelle Kontakt zwischen einem Kind und einer mindestens 5 Jahre älteren Person wird als sexueller Missbrauch definiert. An diesem Definitionskriterium ist zu bemängeln, dass es sexuellen Missbrauch durch Gleichaltrige nicht berücksichtigt. Außerdem darf man nicht vergessen, dass es auch möglich ist, dass jüngere Kinder ältere Kinder sexuell missbrauchen. Nur einen Altersunterschied von 5 Jahren zum Definitionskriterium zu machen schließt also ebenfalls einen beträchtlichen Teil der Missbrauchsfälle aus, denn nach neueren Untersuchungen fangen viele der erwachsenen Sexualstraftäter bereits in ihrer Kindheit und Jugend an, andere sexuell zu missbrauchen.
Zwang und Gewalt
Es ist nicht nur körperliche Gewalt gemeint, sondern auch psychische. "Wenn du was erzählst, habe ich dich nicht mehr lieb, stirbt deine Mama..." zählen ebenso dazu wie körperliche Misshandlungen. Tatsache ist, dass viele Täter gar keine Gewalt anwenden müssen - aufgrund der emotionalen Abhängigkeit. "Warum ich meinen Vater nicht daran gehindert habe, all die Jahre über, hat einen ganz einfachen Grund. Er hätte dann vielleicht aufgehört mich zu lieben. Und er war der Einzige, der das tat." Körperliche Gewalt oder offene Drohungen sind kein allgemeines Definitionskriterium, denn so werden ebenfalls viele Fälle sexueller Gewalt ausgelassen.
Es muss abschließend gesagt werden, dass ein einzelnes Definitionskriterium nicht ausreicht um alle Fälle sexuellen Missbrauchs zu erfassen. Eine Kombination verschiedener Kriterien ist wichtig, denn es gibt immer Grenzfälle.
Zusammenfassend wird unter sexuellem Missbrauch von Kindern jede Handlung verstanden, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die Missbraucher nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen. Diese Definition beinhaltet alle wesentlichen Aspekte. Gegenüber anderen Definitionen hebt diese das Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern hervor. Dabei ist nicht nur die rein körperliche Überlegenheit ausschlaggebend, sondern andere Fähigkeiten, die Kinder erst entwickeln müssen. Bemerkenswert erscheint die Sichtweise, nach der ein Kind einem Täter auch dadurch ausgeliefert ist, dass es aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Wie immer die Definition sexuellen Missbrauchs von Kindern auch lauten möge, so steht allgemein für jeden Menschen fest, dass Kinder naturgemäß liebevoll, zärtlich und anhänglich sind und die Zuwendung Erwachsener suchen. Wenn dann aber ein Erwachsener ein Kind als Sexualobjekt oder Sexualpartner benutzt, dann handelt es sich um ein ungehöriges und unverantwortliches Verbrechen.
2.3 Vergleich Kindesmisshandlung sexueller Missbrauch
Diese beiden Formen der Gewalt gegen Kinder haben viele Gemeinsamkeiten. Ich möchte jedoch kurz auf die Unterschieden verweisen, um die Interventionsmöglichkeiten besser anwenden zu können.
Sexueller Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung Plädoyer für einen sicheren Opferschutz
Der Begriff sexuelle Kindesmisshandlung" lässt den Schluss zu, sexuelle Ausbeutung von Kindern sei lediglich eine Sonderform der Kindesmisshandlung" und folglich seien Konzepte der Arbeit bei körperlicher Gewalt und Kindesvernachlässigung ohne weiteres auf die Problematik des Missbrauchs übertragbar. Es handelt sich dabei aber um einen Irrtum, der für das Opfer verheerende Folgen hat.
Denn mit ihm wird die Unterschiedlichkeit der Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen sexueller und körperlicher Gewalt gegen Mädchen und Jungen übersehen auch wenn einzelne Kinder und Jugendliche im Alltag häufig von beiden Formen betroffen sind.
Sexuelle Gewalt erfahren aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation häufiger Mädchen, denn sie unterliegen einem doppelten Macht- und Abhängigkeitsverhältnis.
Wird ein Kind geschlagen, so hinterlässt die Gewaltanwendung fast immer körperliche Verletzungen. Das Kind hat blaue Flecken und / oder kommt mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Eine Ausrede lautet häufig, es sei von der Treppe heruntergefallen oder habe sich gestoßen.
Sexueller Missbrauch hinterlässt selten sichtbare Spuren, was dazu führt, dass der Zweifel des Opfers an der eigenen Wahrnehmung verstärkt wird.
Die Vertrauenspersonen wissen nur selten von dem sexuellen Missbrauch. Das Opfer bleibt alleine
Bei körperlicher Misshandlung sieht es anders aus. Die Kinder weinen und schreien, wenn sie geschlagen werden. Das Umfeld (Nachbarschaft usw.) hört mit."
Kindesmisshandlung entsteht häufig als spontane Reaktion, wenn die Erwachsenen sich überfordert fühlen (Ärger am Arbeitsplatz, Konflikte in der Partnerschaft, beengte Wohnverhältnisse usw.).
Auch körperliche Gewalt wird häufig mit zunehmender Misshandlungsdauer ritualisiert, doch sind die ersten Gewaltanwendungen meist Spontananwendungen.
Der sexuelle Missbrauch von Mädchen und Jungen ist im Gegensatz dazu eine von Anfang an geplante Tat. Über Zuwendung, Drohungen, Erpressungen und die Isolation des Kindes zieht der Täter das Opfer systematisch in eine Geheimhaltungsallianz und macht es sich gefügig.
Die Unterschiedlichkeit zeigt sich zudem in der Tatsache, dass Männer und Frauen nur in Ausnahmefällen neben den eigenen auch noch Kinder aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis misshandeln.
Es wurde beobachtet, dass prügelnde Eltern häufig den Wunsch haben die Misshandlung zu beenden. Einige bitten selbst bei Beratungsstellen um Unterstützung. Bei sexuellem Missbrauch kommt es dazu fast nie.
Die Missbraucher zeigen sich selten geständig, sie leugnen die Tat. Fast nie haben sie ein Schuldbewusstsein und sind nur in Ausnahmefällen bereit, die Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen.
2.4 Juristische Aspekte zum sexuellen Missbrauch
Im Strafgesetzbuch in den Paragraphen 174 bis 178, den sogenannten Straftaten gegen die sexuellen Selbstbestimmung, hat der Gesetzgeber festgelegt, was unter sexuellen Gewalttaten zu verstehen ist und welche Straftaten er hierfür vorsieht. Der folgende Überblick über die juristischen Aspekte des sexuellen Missbrauchs soll Grundlageninformationen vermitteln.
Auszüge aus dem Strafgesetzbuch: 13. Abschnitt, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
§ 173 - Beischlaf zwischen Verwandten
(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.
(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.
§ 174 - Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen
(1) Wer sexuelle Handlungen
1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,
2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder
3. an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt,
vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Person bestraft, der in einer dazu bestimmten Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung von Personen unter achtzehn Jahren anvertraut ist, und die sexuelle Handlungen
1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2. unter Ausnutzung ihrer Stellung an einer Person unter achtzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.
(3) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2
1. sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt oder
2. den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt,
um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(4) Der Versuch ist strafbar.
(5) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1, des Absatzes 2 Nummer 1 oder des Absatzes 3 in Verbindung mit Absatz 1 Nummer 1 oder mit Absatz 2 Nummer 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn das Unrecht der Tat gering ist.
§ 176 - Sexueller Mißbrauch von Kindern
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt.
(3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen.
(4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt,
2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach Absatz 1 oder Absatz 2 mit Strafe bedroht ist, 3. auf ein Kind mittels Schriften (§ 11 Absatz 3) oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie einwirkt, um
a) das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einer dritten Person vornehmen oder von dem Täter oder einer dritten Person an sich vornehmen lassen soll, oder
b) um eine Tat nach § 184b Absatz 1 Nummer 3 oder nach § 184b Absatz 3 zu begehen, oder
4. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts, durch Zugänglichmachen pornographischer Inhalte mittels Informations- und Kommunikationstechnologie oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Nr. 3 und 4 und Absatz 5.
§ 177 - Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn
1. der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
3. der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
4. der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
5. der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.
(3) Der Versuch ist strafbar.
(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.
(5) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter
1. gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,
2. dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3. eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.
(6) 1In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen. 2Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder
2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
(7) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3. das Opfer in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
(8) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2. das Opfer
a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.
(9) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 4 und 5 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 7 und 8 ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.
§ 178 - Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge
Verursacht der Täter durch den sexuellen Übergriff, die sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung (§ 177) wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.
Außer den genannten befassen sich noch einige Paragraphen des Strafgesetzbuches mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung". Dennoch kommt es bei Kindesmissbrauch recht selten zu einer Verurteilung nach diesen Paragraphen. Das hängt damit zusammen, dass die Strafbestände entweder Gewaltanwendung voraussetzen oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben" erfolgt sein müssen. Doch bei sexuellem Missbrauch ist nur selten sichtbare Gewalt erforderlich. Täter setzen, insbesondere innerhalb der Familie, auf ihre Macht, die Abhängigkeit und die Liebe der Kleinen zu ihnen. Und psychische Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Das Gleiche trifft für die Drohungen zu. Aus der Sicht der Täter ist es gar nicht notwendig, ihre Opfer unter Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Die Androhungen von Aussagen wie: Du kommst ins Heim, dann hab ich dich nicht mehr lieb oder das machen alle Väter mit ihren Töchtern bewertet das Gericht nicht als gegenwärtige Gefahr. Selbst wenn der Täter droht das Kind umzubringen, wenn es etwas erzählt bezieht sich diese Drohung auf die Geheimhaltung, wird also nicht eingesetzt um die Tat zu begehen.
Um nicht ganz in diesem Paragraphendschungel zu resignieren, möchte ich dies an einem Beispiel besser verdeutlichen, bei dem wohl jeder meinen sollte, dass hier unzweifelhaft eine Vergewaltigung vorliegt.
Der 26 Jahre alte Werner H., zweiter Ehemann von Anette H., nutzt den Kinobesuch seiner Frau, um sich an der 8-jährigen Stieftochter Maria zu vergehen. Er legt sich zu dem Kind, das vom Sofa aus einen Kinderfilm ansieht.
Er erklärt ihr, dass das alle Papis so machen, und dringt in sie ein. Aufgrund seinen erheblichen Körpergewichts und aus Angst, er könnte ihr noch Schlimmeres antun, lässt die Kleine es über sich ergehen.
Im streng juristischen Sinne haben wir es nicht mit einer Vergewaltigung zu tun, da Werner H. weder massiv droht noch mit physischer Gewalt ihren Widerstand bricht. Unsere tatsachenorientierte Rechtsprechung tut sich schwer mit dem Begriff der psychischen Gewalt.
Wenn wir unsere Aufgabe, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, ernst nehmen, dann gibt es gute Gründe, das man sich mit den gesetzlichen Bestimmungen ausnimmt. Insbesondere, um die Kinder vor zusätzlichem Schaden durch das Ermittlungsverfahren zu schützen, bedarf es neben einfühlsamen Anwälten auch guter Kenntnis der jeweiligen Rechtsbestimmungen, insbesondere auch der Strafprozessordnung. Außerdem: Ob ein Erwachsener sich unbekleidet vor Kindern zeigt oder ein sadistischer Täter brutal und rücksichtslos ein Kind vergewaltigt; in beiden Fällen handelt es sich um sexuellen Missbrauch nach § 176 StGB.
Die Aufdeckung konkreter Fälle sexuellen Missbrauchs macht also häufig Entscheidungen erforderlich, deren rechtliche Tragweite oft nicht ausreichend überblickt werden. Wird der Polizei bekannt, dass ein sexueller Missbrauch vorliegt, muss sie dem nachgehen. Man hat nicht die Möglichkeit, die Anzeige zurückzuziehen.
Das Wohlergehen des Kindes sollte an allererster Stelle vor einer möglichen Strafe des Täter stehen, da eine Sekundärtraumatisierung durch das Strafverfahren nicht ausgeschlossen werden kann. Für das betroffene Kind werden immer bestimmte Konsequenzen erwachsen, denn der gerichtliche Weg ist langwierig und auf jeden Fall sehr belastend.
3. Formen des sexuellen Missbrauchs
Die Formen sexueller Missbrauchshandlungen reichen von sexualisierter Sprache über scheinbare Berührungen, oraler, analer und vaginaler Vergewaltigung bis zu sadistischen Quälereien. Die folgenden Kategorisierungen sollen einen Überblick über die verschiedenen Formen des sexuellen Missbrauchs geben. Wichtig dabei ist, dass die Intensität eines sexuellen Missbrauchs nichts darüber aussagt, wie schädigend es für die Kinder ist. Je nach persönlichem Erleben kann ein als wenig intensiv angeführter Missbrauch unter Umständen erheblich größeren Schaden anrichten als einer, der als sehr intensiv beschrieben wird. Hier nun die Übersicht über Formen und Intensität sexuellen Missbrauchs:
Sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt
Der Täter entblößt sich vor dem Kind.
Das Kind wird gezwungen sich Pornos anzusehen.
Der Täter beobachtet das Kind beim Ausziehen, beim Baden, macht Photos usw.
Weniger intensiver sexueller Missbrauch
Der Täter versucht, das Kind an den Geschlechtsteilen anzufassen.
Der Täter fasst dem Opfer an die Brust etc.
Sexualisierte Küsse und Zungenküsse.
Intensiver sexueller Missbrauch
Das Kind muss dem Täter seine Geschlechtsteile zeigen.
Der Täter befriedigt sich vor dem Kind.
Das Kind muss sich vor dem Täter sexuell befriedigen.
Der Täter fasst dem Kind an die Geschlechtsteile.
Das Kind muss dem Täter an die Geschlechteile fassen.
sehr intensiver sexueller Missbrauch
Versuchte oder vollendete vaginale Vergewaltigung.
Versuchte oder vollendete anale Vergewaltigung.
Das Kind (der Junge) wird gezwungen, den Täter anal zu penetrieren (mit dem Penis einzudringen).
Versuchte oder vollendete orale Vergewaltigung.
Das Kind wird gezwungen, den Täter oral zu befriedigen.
Bei den bisher beschriebenen Formen gehen wir von sexuellen Begegnungen zwischen männlichen Tätern und einzelnen Kindern aus. Das ist tatsächlich die häufiger Form sexueller Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene. Darüber hinaus gibt es die sexuelle Gewalt an Kindern durch weibliche Täter sowie die sexuelle Vermarktung von Kindern in der Pornoindustrie, durch die ungeheure Gewinne erzielt werden. In den letzten Jahren haben als Kulturreisen getarnte Urlaubsfahrten nach Asien, Afrika und osteuropäische Staaten erheblich zugenommen. Fast haben wir uns an die euphemetisch als Sextourismus beschriebene alltägliche sexuelle Gewalt gewöhnt, die aber keineswegs harmloser als in Deutschland begangene Taten sind.
Was hier beschrieben wurde sind also die verschiedenen Formen sexuellen Missbrauchs. Dass sexueller Missbrauch viele Gesichter hat, zeigt die Aufzählung der Formen. Damit man einen besseren Eindruck davon gewinnen kann, wie verschiedenartig sexuelle Gewalt gegen Kinder sein kann, möchte ich von einige Betroffenen berichten:
Stefan, 13 Jahre alt, fährt seit 3 Jahren mit seiner Pfadfindergruppe in den Oster- und Sommerferien ins Zeltlager. Im letzten Sommer ist der neunzehnjährige Gruppenführer Klaus-Peter einige Male nachts zu ihm in den Schlafsack gekrochen. Zuvor hat er die anderen seiner Gruppe auf eine Nachtwanderung geschickt oder Stefan unter einem Vorwand in sein Zelt gelockt. Sobald sie allein waren, hat er ihn am Penis gestreichelt und ihn gebeten, dasselbe bei ihm zu tun. Als Gegenleistung gewährte er ihm einige Vergünstigungen im Lager. Damit Stefan sein Geheimnis nicht weiter erzählt, hat Klaus-Peter ihn jedes Mal nach dem Vorfall erlaubt, eine von seinen Zigaretten zu rauchen. Sobald Stefan die Zigarette aufgeraucht hatte, pflegte Klaus-Peter zu sagen: So, wenn du was sagst, werde ich deinen Eltern erzählen, dass du geraucht hast. Weil ich der Sippenführer und älter bin als du, werden sie mir mehr glauben als dir!
Jasmin ist ein selbstbewusstes und lebendiges Kind, das mehrere Geschwister hat und unbefangen auf andere Menschen zugeht. Manchmal besucht sie nachmittags ihre gleichaltrige Freundin Sonja, die nur wenige Häuserecken entfernt wohnt. Dabei kommt es gelegentlich vor, dass sie sich mit dem 69 Jahre alten Großvater der Freundin unterhält. Zu Hause berichtet sie ihrer zwei Jahre älteren Schwester, dass der Opa von Sonja richtig nett ist und ihr manchmal geschälte Karotten gibt, die sie gerne isst. Vor ein paar Tagen war sie mit Sonjas Großvater allein in der Wohnung, weil ihre Freundin etwas aus der Apotheke holen musste. Da hat der Großvater sie zu sich gewunken und sie an der Scheide und am Popo gestreichelt. Dann hat er zu ihr gesagt: Schau mal, was ich hier habe! Jasmin wollte schon zugreifen, weil es so aussah, als wenn er eine Karotte in der Hand hielt. Als sie bemerkte, dass es sich tatsächlich aber um seinen aufgerichteten Penis handelte, wich sie erschrocken zurück. Bevor die Freundin wieder kam zeigte er ihr unanständige Photos und erklärte, dass sie ins Heim müsse, wenn sie verraten würde, was sich heute zugetragen habe.
Während die ersten zwei Fälle eher am Anfang einer Missbrauchs-Beziehung stehen, beschreibt die folgende Schilderung einen langjährigen Leidensweg.
Karin ist 16 Jahre alt und besucht die neunte Klasse der Hauptschule. Aufgrund mangelnder schulischer Leistungen ist sie bereits einmal sitzen geblieben. In den letzten Jahren fiel sie wiederholt durch Ladendiebstähle auf; mehrfach hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Mit 14 Jahren war sie bereits schwanger und wurde gezwungen abzutreiben. Karin wird seit ihrem sechsten Lebensjahr von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Anfangs hat er sie wenn die Mutter au er Haus war zu Bett gebraucht und sich zu ihr gelegt. Zuerst empfand Karin es als angenehm, wenn ihr Stiefvater bei ihr blieb, damit ich nicht solche Angst habe." Doch später hat er sie immer so komisch zwischen den Beinen gestreichelt und seinen Finger in ihre Scheide geschoben. Das hat manchmal sehr wehgetan. Noch vor der Pubertät ist er dazu übergegangen, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Mal drohte er damit, dass die Familie nicht genug zu essen hat, wenn er ins Gefängnis muss. Dann wieder machte er ihr großzügige Geschenke, kaufte ihre CDs, schöne leider und Schminksachen, um bei nächster Gelegenheit anzukündigen, dass er sie beide umbringen wird, wenn sie etwas erzählt.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder kann aber auch Formen annehmen, die scheinbar harmlos sind und sich auf den zweiten Blick als problematisch zeigen.
Florian und Jens sind beide sieben Jahre alt und gute Freunde. Manchmal pfeift Flori, wie Jens seinen Freund nennt, bereits um drei Uhr unter seinem Fenster, damit sie gemeinsam im Wald Räuberbande spielen können. Auf dem Weg zum Wald kommen sie an einem alten Sandsteinhaus vorbei, in das ein kinderloses Ehepaar wohnt. Seit ein paar Wochen werden sie des Öfteren zu einem Glas Cola eingeladen. Florian und Jens finden das Ehepaar Köster sehr nett, vor allem auch deshalb, weil sie bei ihnen öfters am Computer spielen dürfen. Vor einigen Tagen fragte Frau Köster, ob sie nicht mal Lust hätten, Krankenhaus" zu spielen. Dazu sollten sie sich ausziehen, während Herr Köster ein paar Fotos machen wollte. Jens und Florian willigten ein, und es war für sie auch ganz harmlos. Hinterher durften sie zur Belohnung in der Badewanne toben, während Herr Köster einige weitere Fotos machte.
Es fordert nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was mit den Fotos geschieht. Vermutlich werden sie in einigen Wochen in einem Magazin für Pädophile oder im Internet auftauchen...
Wenn wir die Beispiele zusammenfassen, erkennen wir folgende vier Formen sexuellen Missbrauchs:
Ein junger Erwachsener männlichen Geschlechts missbraucht einen Jungen, der sich in oder kurz vor der Pubertät befindet.
Ein alter Mann missbraucht ein sehr junges Mädchen, dass noch Jahre von ihrer Geschlechtsreife entfernt ist.
Der Stiefvater missbraucht die ihm anvertraute Tochter der Ehefrau über Jahre mit zunehmender Brutalität.
Ein geschäftstüchtiges Ehepaar fertigt Fotos männlicher Kinder im vorpubertären Alter für eine pädosexuelle Zeitschrift oder zur Vermarktung im Internet an.
3.1 Grenzziehung zwischen Zärtlichkeit und sexuellem Missbrauch
Für Außenstehende ist es oftmals schwer, die Grenzen zwischen liebevoller körperlicher Zuneigung und sexuellem Missbrauch zu erkennen. Dies ist jedoch aus dem Grunde so bedeutsam, als dass nicht jeder körperlicher Kontakt zwischen Erwachsenen und Kind mit Misstrauen betrachtet werden darf. Zärtlichkeiten zwischen Eltern und Kindern sind wichtig. Kinder können sich gefühlsmäßig nur gesund entwickeln, wenn sie Wärme, Liebe und Zärtlichkeit erfahren. Sexueller Missbrauch dagegen hat selbstverständlich nichts mit Liebe und Zärtlichkeit zu tun! Aber wo ist die Grenze, ist es noch Zärtlichkeit und Körperkontakt oder schon sexueller Missbrauch.
Die Grenze wird durch die Absicht des Täters eindeutig festgelegt. Sexueller Missbrauch entsteht nicht fliesend aus dem liebevollen Körperkontakt mit einem Kind. Es ist ein bewusstes Vorgehen. Der sexuelle Missbrauch beginnt da, wo Erwachsene körperliche Nähe zu Kindern herstellen, um eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Ausschlaggebend ist die Absicht des Erwachsenen, aus zärtlich- spielerisch erscheinenden Berührungen sexuelle Handlungen entstehen zu lassen.
Kinder haben sehr feine Antennen dafür, zwischen liebevoller Zuwendung und sexuellem Übergriff zu unterscheiden. Sie fühlen, wenn Erwachsene sie benutzen möchten und nicht als Person an ihnen interessiert sind. So spürt ein Mädchen sehr genau, ob der Onkel ihr im Schwimmbad beim ankleiden hilft, weil es noch Schwierigkeiten damit hat, oder ob er ihren Körper betrachten und berühren will. Eines sollte klar sein: Die Verantwortung liegt niemals und unter keinen Umständen bei dem missbrauchtes Kind. Die Schuld für sexuelle Gewalt und Ausbeutung liegt immer und ausschließlich beim Täter!
4. Ursachen des Missbrauchs
Sexueller Missbrauch ist das Ergebnis vielfältiger Ereignisse und Entwicklungen. Ursachen von sexuellem Missbrauch können in unserem gesamtgesellschaftlichen System, in den sozialen Lebensbedingungen und dem Lebensumfeld in der Familie und Familiengeschichte liegen.
Zur Beantwortung der Frage, warum es überhaupt zum sexuellen Missbrauch kommt, wurde und wird auch heute noch durchgehend von einer krankhaften Persönlichkeit des Täters ausgegangen. In den Medien wird immer wieder der perverse, abnorme und geistesgestörte Täter beschrieben, der nicht in der Lage ist, seinen übersteigerten Geschlechtstrieb zu unterdrücken. Aufgrund einer angeborenen oder erworbenen Störung, verbunden mit mangelnder Intelligenz wird der Mann zum Tier, das über das Kind herfällt.
Wir bekommen ein Bild des Täters, das dazu beiträgt, den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs in den Bereich der seltenen Vorkommnisse auszusondern. Dies entspricht in keinem Fall der Realität. Wenngleich es auch den Triebtäter gibt, so erfolgt sexueller Missbrauch von Kindern in der Regel durch unauffällige, psychisch nicht von der Norm abweichende Menschen, vor allem Männer, von Außenstehenden oft als fleißige und treusorgende Familienväter beurteilt, denen niemand den Missbrauch der eigenen Tochter zutrauen würde.
In der Regel wird der familienorientierte oder der feministische Ansatz herangezogen, um eine Erklärung für sexuellen Missbrauch zu geben. Ich möchte in meiner Arbeit auf folgendes näher eingehen:
Der familienorientierte Ansatz
Der sozialpsychologische Ansatz
Der feministische Ansatz
4.1 Familienorientierter Ansatz
Systemorientierte Erklärungsansätze sehen den sexuellen Missbrauch als ein Symptom gestörter Interaktionsmuster innerhalb eines Familiensystems. Der familienorientierte Ansatz ist ein Teilgebiet der Systemtheorie. Inzestfamilien werden von den Familientherapeuten als dysfunktional oder als zerrüttet bezeichnet. Das familienorientierte Modell sieht keine linearen Begriffe von Ursachen und Wirkung und somit wird die Schuldfrage vernachlässigt. Alles im System Familie ist aufeinander in Wechselwirkung bezogen. Verhalten lässt sich nicht mehr auf einzelne Individuen zurückführen alle im System Beteiligten übernehmen gleich viel Verantwortung. Die Begriffe Opfer und Täter verlieren in der Systemtheorie ihre Bedeutung. Inzestsituation ist Kennzeichen einer Familie in Krise".
Die Inzestdynamik wird auf die emotionalen Defizite aller Beteiligten zurück geführt; alle Familienmitglieder haben kollusiv ihren aktiven oder passiven Anteil an der Aufrechterhaltung des Missbrauchs. Deshalb muss sich ein Hilfsangebot an alle Mitglieder einer Familie richten. Familie im hier verstandenen Sinne meint stets die faktisch existierende Lebensgemeinschaft von Erwachsenen und Kinder, ob diese nun gesetzlich legimitiert ist oder nicht. Die Familientherapeutin Larson sieht als Hauptproblem der von sexuellem Missbrauch betroffenen Familien den Umgang mit Grenzen an. Sie bestimmt Merkmale, die bei diesen Familien auf Probleme mit Grenzbereichen hinweisen.
Soziale Isolation
Larson spricht von besonders starren Grenzen zwischen sich und der Umwelt." Sie isolieren sich von der sozialen Umwelt, um das Familiengeheimnis zu wahren. Diese Isolationstendenz fördert die Tatsache, dass sich die Familie als zentrale Quelle für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse betrachtet.
Rollenumkehr
Durch die soziale Isolation sind die einzelnen Familienmitglieder besonders abhängig voneinander. Das hat zur Folge, dass es zu einer Verwischung der Generationsgrenzen kommt, und damit häufig zu einer Rollenumkehr unter Familienmitgliedern. Von Kindern wird erwartet, dass sie Erwachsenenrollen übernehmen, wie z.B. Haushaltsführung, Versorgung jüngerer Geschwister. Kinder haben auf einmal die Aufgabe, alle unbefriedigten Bedürfnisse der Erwachsenen zu stillen; Sexualität ist dabei nur eines von vielen.
Symbolische Beziehungsstrukturen zwischen den Familienmitgliedern
Die Grenzen zwischen Familienmitgliedern verwischen sich und beginnen diffus zu werden. Autonomie muss geopfert werden, um trotz der geringen Ressourcen innerhalb der Familie Unterstützung zu erhalten. Nur so kann ein Gefühl des Zusammenhalts entstehen, welches die Familienmitglieder symbiotisch aneinander binden. Ein einzelnes Familienmitglied glaubt nur überleben zu können wenn ein anderes Familienmitglied ebenfalls überlebt.
Larson begründet so auch das Verhalten der Mütter, die oft trotz Kenntnis vom Missbrauch nichts dagegen unternehmen. Die Angst, aufgrund einer Anzeige verlassen zu werden und die eventuell daraus folgende existenzielle Bedrohung hindert die Frauen, das Familiengeheimnis offen zu legen.
Verwischung der intrapsychischen Grenzen
Um die Beziehungsmuster aufrecht zu erhalten, entwickeln die Familienmitglieder Abwehrmechanismen. Durch Verleugnung und Rationalisierung von Gefühlen werden diese allerdings auf Dauer in ihrer Realitätswahrnehmung stark beeinträchtigt. Der Teufelskreis der Isolation wird so immer weiter gefördert.
Der dargestellte familienorientierte Ansatz geht von einer Konstellation gleichgestellter Familienmitglieder aus. Hier wird zum einen das Machtgefälle zwischen Kindern und Eltern negiert, zum anderen auch das Ungleichgewicht zwischen den Eheleuten. Der Ansatz berücksichtigt keinerlei gesellschaftliche Gründe. So wird darüber hinweggesehen, dass Gleichberechtigung von Frauen und Männern in unserer patriarchalischen Gesellschaft noch keine Realität ist.
Kritik an diesem Modell dreht sich besonders um die Frage, ob durch die Theorie von der dysfunktionalen Inzestfamilie der Vater als Täter entschuldigt wird, indem der Mutter und der Tochter eine Beteiligung bei der Entstehung des Missbrauchs angelastet werden. Familientheoretiker betonen jedoch, dass dem Täter durchaus die volle Verantwortung für sein Verhalten zugewiesen werden kann und soll. Sicherlich spielen die gestörten Familienbeziehungen bei innerfamiliärem Missbrauch eine wichtige Rolle. Es bleibt die Frage, ob sie wirklich die Ursache des sexuellen Missbrauch und nicht vielmehr eine Folge des Missbrauchs sind.
4.2 Sozialpsychologischer Ansatz
Die Sozialpsychologie untersucht allgemein betrachtet menschliches Verhalten in Abhängigkeit von dem jeweilig sozialen Kontext. Das rollenspezifische Verhalten der Familienmitglieder zueinander und die Analyse und Erklärung innerfamiliärer Gewaltstrukturen sind hier relevant. Im Gegensatz zum psychoanalytischen Ansatz, der die Krankheit einer Person zum Ausgangspunkt der Intervention macht gehen sozialpsychologische Ansätze von einer Familiekrise aus, die in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu bearbeiten sind. Weder die Symptome des Missbrauchs noch die Tat oder der Täter stehen im Vordergrund, sondern vielmehr die multifaktoriell bedingte Krise, die wiederum das Verhalten der Familienmitglieder bestimmt. Wenn diese Krise erfolgreich behandelt wird, so wird angenommen, dass auch die Voraussetzungen für Misshandlungen eliminiert worden sind. Sexueller Missbrauch wird hier als eine Form der Kindesmisshandlung verstanden.
Wolff, ein führender Vertreter der sozialpsychologischen Misshandlungsforschung, analysiert Gewalthandlung sowohl aus soziologischer als auch psychologischer Sicht. Gewaltförmige gesellschaftliche Strukturen prägen demnach die Gewalt in der Familie. Insofern seien alle Formen menschlichen Zusammenseins von Gewalt gekennzeichnet.
Hartwig führt aus, dass Wolff bei der innerfamiliären Gewalt von einem Unterschichtphänomen ausgeht, wobei durch soziale Deklassierung, beengte Wohnsituation, Arbeitslosigkeit und soziale Isolation der Familien ein äußerer Druck erzeugt wird, der sich schließlich innerfamiliär auf der Ebene der Generationshierarchie gegen die Kinder richtet. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen andere Theorien, die Kindesmisshandlungen im Kontext des Erziehungsalltag untersuchen. Es wird die Sensibilisierung der Eltern für Gewalt gefordert und auf die Gefahren der Repression im erzieherischen Handeln hingewiesen. Wolff unterscheidet zwei Formen der Misshandlung, einerseits die situative und andererseits die familiengeschichtlich eingebundene. Danach erfolgen situative Misshandlungen häufig im Affekt und resultieren aus einer allgemeinen Überforderungssituation der Eltern, sie sind langfristig geplant.
Während familiengeschichtlich eingebundene, d.h., stetig wiederkehrende Misshandlungen dagegen grundsätzlich aus einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Kind resultieren. Gewalthandlungen in Familien haben einen Doppelcharakter von Sinnlichkeit: Beziehungswunsch und Selbstverletzung einerseits, Destruktivität und Entsprachlichung andererseits.
Die Anwendung der Thesen zur Kindesmisshandlung auf sexuellem Missbrauch ist völlig unzulässig. Sexueller Missbrauch hat wenig mit der sozialen Lage einer Familie zu tun. Sexueller Missbrauch ist kein Phänomen der Unterschicht, er tritt in allen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen auf. Völlig absurd erscheint es, dass hier sexueller Missbrauch als strukturelle Vernachlässigung bezeichnet wird, werden hier doch offensichtlich die Bedürfnisse eines Familienmitglieds- des Vaters auf Kosten der Tochter befriedigt.
4.3 Feministischer Ansatz
In der bürgerlichen Fachliteratur au er der feministischen gibt es für den innerfamiliären Missbrauch unterschiedliche Erklärungsstereotypen:
Der Vater war sexuell frustriert. Dabei hat er sich in den Mitteln vergriffen. Er war einsam und verunsichert und suchte Nähe und inneren Halt in der Beziehung zur Tochter.
Die Tochter wünschte sich die Zuneigung des Vaters, wenn auch nicht in der Form, wie der Vater das wollte. Oder weniger bedächtig: Die Tochter hat ihn verführt.
Die Mutter hat sich sexuell zurückgezogen, den Mann frustriert und hat ihre Tochter in die Rolle der Partnerin gedrängt.
Sexueller Missbrauch ist ein Missbrauch von Macht, den vor allem Männer gegenüber Mädchen, also gegenüber Schwächeren ausüben.
Susan Brownmiller kommt in ihrer Analyse über Vergewaltigung zu folgender Feststellung:
Männer vergewaltigen niemanden, die/der sich in der gleichen Machtposition wie sie selbst befinden".
David Finkelhors Untersuchung stimmt mit dieser These überein. Diese zentrale Bedeutung und Funktion der meisten sexuellen Misshandlungen liegt in der Befriedigung männlicher Dominanz und Herrschaftsbedürfnisse. Es geht also um die Ausübung von Gewalt und Macht.
Das starke Ungleichgewicht der Besitzverhältnisse in unserer patriarchalischen Gesellschaft sichert nicht nur den Männern die größere Macht im öffentlichen Leben, sondern gibt ihnen auch im Privatleben die Möglichkeit, Frauen und Mädchen ihren Willen aufzuzwingen. Sexualität ist in unserer Gesellschaft noch weitgehend gekennzeichnet durch die Unterordnung des weiblichen Lustempfindens. Es herrscht die weit verbreitete Ansicht, Frauen müssten ihren ehelichen Pflichten nachkommen. So kommt es vor, dass Männer sich häufig Partnerinnen suchen, die jünger und schwächer als sie sind. Je größer die Macht des Mannes und je mehr seine Partnerin zu ihm aufsieht, desto geringer die Gefahr, dass sie sich als autonomes Subjekt verhält und ihm ihre Gunst nach belieben schenkt oder verweigert. So gesehen, kann eine Tochter als die ideale Partnerin erscheinen: In keiner anderen Beziehung ist das Machtgefälle größer als zwischen Vater und Tochter. Ebenfalls lassen sich bei keinem anderen Wesen die Autonomiebestrebungen leichter ignorieren und unterdrücken,
Töchter aus Familien, in denen der Vater das Sagen hat, autoritär strukturierte Familien, haben keine Vorbilder eines partnerschaftlichen Umgangs zwischen den Geschlechtern. Es fehlt ihnen an Vorbildern einer weiblichen Selbstbestimmung. Dies hat zur Folge, dass Mädchen aus solch autoritär strukturierten Familien sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie besonders gefährdet sind, sexuell missbraucht zu werden. In Identifizierung mit ihren Müttern und anderen Frauen lernen insbesondere Mädchen aus patriarchalisch strukturierten Verwandtschaftssystemen schon früh, dass Frauen in allen Lebensbereichen benachteiligt und abhängig sind. Sie haben sexuelle Übergriffe von Männern zu dulden. Frauen müssen sich zurücknehmen und vor allem Aushalten und Schweigen.
Hier nur ein kurzes Beispiel dazu. Eine alltägliche Szene beim Verwandtschaftsbesuch:
Anne, 8 Jahre alt, muss gegen ihren Willen mit zum sonntäglichen Besuch der Großeltern. Jeden Sonntag das gleiche Spiel. Opa drückt ihr einen widerlichen nassen Kuss mitten auf den Mund. Alle müssen es doch sehen! Warum hilft mir denn niemand?" Keiner versteht, dass sie Opa nicht mehr mit einem Kuss begrüßen möchte; inzwischen hat sie es aufgegeben, sich zu wehren. In der Verwandtschaft gilt sie als verstockt und unfreundlich.
Mädchen unterliegen einem doppelten Gewaltverhältnis als Kind und aufgrund ihres Geschlechts. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Familie manifestiert die Ohnmacht von Mädchen. Als Ernährer der Familie glauben Männer oftmals, ein Recht zu haben, sich von Frau und Tochter bedienen und umsorgen zu lassen. Ich kann mit meiner Tochter machen was ich will." Die sexuelle Ausbeutung ist Ausdruck dieses männlichen Besitzdenkens und eine Überspitzung patriarchalischer Gesellschaft und Familienstrukturen. Die Inzest- oder Missbrauchsfamilie stellt demnach nicht einen abnormen Einzelfall einer zerrütteten oder kranken Familie dar, sondern den leider allzu häufigen Extremfall der Normalfamilie.
Sie ist Ausdruck einer Gesellschaftsstruktur, die Missbrauchern eine Position sichert, in der sie praktisch ungestraft Kinder und Jugendliche besonders Mädchen zur Befriedigung ihrer Macht und Dominanzbedürfnisse ausbeuten können.
4.4 Biographische Faktoren
Obgleich auch Frauen Mädchen und Jungen sexuell missbrauchen, besteht in der Fachdiskussion inzwischen ein breiter Konsens darüber, dass auch bei Missbrauch an Jungen in der Regel die Täter ganz normale" Männer sind und keine krankhaft veranlagten Einzelgänger.
Wie kommt die Gewalt in den Mann?
Als Ergebnis empirischer Studien werden Männlichkeitsproblematik, eine Aggressionsproblematik, eine Störung des Selbsterlebens und eine Beziehungsproblematik als ursächlich für das Täterverhalten aufgezeigt.
Amerikanische Forschungsergebnisse belegen, dass ein Teil der Täter selber als Junge sexuell missbraucht wurde. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang bei der Entwicklung therapeutischer Hilfen zu berücksichtigen, doch ebenso wichtig ist es aufzuzeigen, dass nicht jedes männliche Opfer zum Täter wird. Unsere Gesellschaft produziere Missbraucher schneller, als Irgendjemand diese einfangen oder heilen könne. Männer lernten von Geburt an, das Privilegien ihr Recht und Aggression ihre Natur sei. Männer lernten zu nehmen, weniger zu geben, lernten Probleme mit Sex und der Darstellung ihrer Macht zu lösen.
So prägt das in unserer Kultur herrschende Männlichkeitsideal das Bild vom männlichen Eroberer, der das Nein einer Frau nicht ernst zu nehmen hat, sondern als deren Wunsch nach Sexualität fehlinterpretiert. Sie will es angeblich. Männer erhalten für Eroberungen Bewunderung, Frauen Verachtung. So gelten ältere Männer, die sich junge Frauen suchen, zum Beweis männlicher Potenz, als toller Hecht ältere Frauen mit jüngeren Partnern hingegen lächerlich.
Die geschlechtsspezifische Sozialisation macht Männer anfällig für Gewalt, Vergewaltigung, Einschüchterung und sexuellen Missbrauch. Die Sexualisierung von Macht, Intimität und Zuneigung, zu weilen auch von Hass und Verachtung, ist Teil männlicher Sozialisation.
Das Machtungleichgewicht ermöglicht Männern gerade im nahen sozialen Umfeld einen selbstverständlichen Zugang zu Mädchen. Über die Ausbeutung der von ihnen abhängigen Kinder und Jugendlichen wiederum befriedigen Männer ihr Macht- Dominanzbedürfnis, manifestiert somit das Machtungleichgewicht. Die meisten Männer sind keine Missbraucher, doch die meisten Männer zeigen sich gegenüber ihrem gewalttätigen Geschlechtsgenossen eher rücksichtsvoll, haben Verständnis dafür, dass ein Mann den Reizen der Verführerin nicht widerstehen konnte.
Männliche Sexualität wird häufig als eine unkontrollierbare Kraft betrachtet, die akzeptiert werden muss. Mädchen und auch Jungen werden nicht nur als für ihren eigenen Schutz verantwortlich angesehen, sondern sie sollen auch noch darauf achten, dass sie nicht zufällig einen Mann erregen, denn dieser könnte dann ja nicht mehr Herr seiner Triebe sein!
Feministinnen vertreten die Position, jeder Mann sei ein potentieller Vergewaltiger. Weiter gehen sie davon aus, dass jeder Mann sexuelle Gewalt ausüben kann. Demnach kann eine Frau keinem Mann über den Weg trauen.
Josephine Rijnaarts zeigt, dass menschliches Verhalten immer Ergebnis einer Wechselwirkung zu individueller Handlungsfreiheit und gesellschaftlichen Strukturen seien. Zwar verleihe die patriarchalische Gesellschaftsstruktur Männern Macht über Frauen und Kindern, doch sei Macht besitzen nicht gleichbedeutend mit Macht missbrauchen.
Psychische Neigung ist kein unzähmbarer Trieb. Persönliche Verantwortung trennt das eine vom anderen. Denn bei allem Verständnis für das jeweils individuelle Schicksal eines Täters ist und bleibt die persönliche Verantwortung eines jeden Mannes, die ihm gegebene Macht nicht zu missbrauchen, und das Recht jedes Kindes auf sexuelle Selbstbestimmung zu achten! Der feministische Ansatz beobachtet und untersucht die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Menschen und dem sozialen Gebilde, in dem wir leben, recht präzise. Doch indem die Theoretikerinnen der Frauenbewegung sich einseitig auf die Bekämpfung des männlichen versteifen, gelingt die Ablösung von allzu formalisiertem Denken nicht immer. Der männliche Machtanspruch sollte aber nicht zur Ursache erklärt werden, sondern als Teil des Erklärungssystems dienen.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein multifaktorielles Geschehen, dass zahlreiche Einzelaspekte enthalten. Sexueller Missbrauch hat niemals eine einzige Ursache, sondern stellt sich als eine unglückliche Mischung von vielen Ursachen dar. Hierbei spielt die Beziehungsfähigkeit des Täters eine große Rolle. In der therapeutischen Arbeit hat die Beziehungsfähigkeit des Täters einen hohen Stellenwert. Im Laufe eines Lebens formt sich die menschliche Seele zu einer unverwechselbare Persönlichkeit. Wir werden nicht nur durch unsere Kindheit, sondern auch durch viele aktuell wirksame Einflüsse geprägt. Letztlich entscheidend für eine sexuell gestörte Entwicklung sind die persönliche Situation und die Lebenslinie des Täters.
Ich möchte einige Faktoren aufzählen, die dazu beitragen können, dass Männer und Frauen Täter werden.
Eigene Missbrauchserfahrungen doch nicht alle Opfer werden zu Tätern. Eine besondere Gefährdung liegt dann vor, wenn sich das Opfer mit dem Täter identifiziert, das heißt seine Taten als gerechtfertigt ansieht.
Eine extrem frauenverachtende, mitunter gewaltbereite Einstellung, die selbst junge Mädchen als bereitwillig ansieht.
Schwer gestörte Familienverhältnisse, belastende Lebenswege frühe Heimkarrieren, Alkohol- und Suchtmittelmissbrauch in der Familie,
Misshandlungen, Vernachlässigung, erlebte Gewalttätigkeiten. Beziehungs- und Kontaktstörungen, starre Familienregeln, wenig Offenheit über Sexualität, verklemmter, stark moralisierender und körperfeindlicher Erziehungsstil.
Persönlichkeitsstörungen: Neigungen zum Perfektionismus, paranoide Persönlichkeitsstörungen.
Eine pädophile Fixierung.
Sexuelle Inkompetenz das heißt, ein Mensch ist aus körperlich seelischen Gründen, etwa nach Unfall, durch Hirnschädigung, bei Körperbehinderung oder aus anderen Gründen, nicht in der Lage, erwachsene Sexualität zu Leben.
Das alles sind Merkmale, die in einer bestimmten Kombination und Stärke dazu beitragen können, dass sich Männer oder Frauen an Kindern vergreifen. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand gibt es jedoch keine eindeutige Täterpersönlichkeit. Die Suche nach bestimmten Merkmalen, etwa Aussehen, Alter, Schichtzugehörigkeit und vielem mehr, hat kein Ergebnis gebracht. Ob ein Mensch zum Sexualstraftäter wird, ist letztlich von seiner persönlichen Lebensgeschichte abhängig.
5.1 Ausmaß und Dunkelziffer
Das wahre Ausmaß von sexuellem Missbrauch lässt sich aufgrund der sehr hohen Dunkelziffer schlecht erkennen. Die Dunkelziffer liegt bei den an Kindern begangenen Missbrauchshandlungen besonders hoch. Man schätzt, dass noch etwa acht zehnmal mehr Kinder betroffen sind, als bekannt wird. Die Gründe dafür sind vielseitig: Häufig ist ein Kleinkind, zu Aussagen noch nicht fähig, Opfer der Tat. Das größere Kind scheut sich, Angaben zu machen, vor allem dann, wenn der Vater als Täter in Frage kommt. Das Kind läuft sogar Gefahr, für den Zerfall der Familie und für die nach der Verurteilung des Vaters aufkommende Not verantwortlich gemacht zu werden. Das Kind wird als der schuldige Teil angesehen und manchmal sogar als kleine Hure oder phantasievolle Lügnerin bezeichnet.
Die Opfer werden selten oder überhaupt nicht dem Arzt in seiner Praxis vorgestellt, schon aus der Sorge heraus, es könnten Anzeigen erfolgen. Nachfolgende Untersuchungen, Begutachtungen und Vernehmungen im Ermittlungsverfahren gegen den Täter werden für die ganze Familie als peinlich und unangenehm angesehen und sollen deshalb vermieden werden. Diese Tatsachen sprechen deutlich dafür, dass die tatsächliche Zahl von sexuellem Kindesmissbrauch weit über der Zahl der bekannt gewordenen Fälle liegt. Aus diesem Grund wird allgemein davon ausgegangen, dass in der Bundesrepublik Deutschland jährlich ca. 300.000 Kinder sexuell missbraucht werden.
5.2 Psychogramme der Täter
Es sind keine äußeren Merkmale, die Missbrauchstäter, von anderen Männern unterscheiden. Sie sind unauffällige, ganz normale Männer, die ein Leben wie jedermann führen, und keineswegs jene Sonderlinge, Monster oder Psychopaten, als die sie die Öffentlichkeit gerne sehen möchte. Ob vergewaltigender Vater oder Onkel, übergriffiger Nachbar oder Priester Kindesmissbraucher sind keine Außenseiter der Gesellschaft, sonder Durchschnittsmenschen. Sie entstammen jeder Schicht, verfügen über die verschiedensten Bildungsgrade, üben die verschiedensten Berufe aus, sind ebenso häufig arbeitslos wie andere Männer und haben ähnliche Freizeitgewohnheiten. Nichts, aber rein gar nichts deutet darauf hin, das jemand ein Kinderschänder ist. Nicht einmal für die engste Familie. Deshalb kann man niemandem von vorneherein als Täter ausschließen. Es gibt Überlegungen, dass diese Männer in ihrer Kindheit selbst sexuell missbraucht wurden. Sie wollen später nicht mehr Opfer sein, sondern identifizieren sich mit der Macht und werden auch zum Täter. Nicht jeder Mann jedoch, der ein Kind sexuell missbraucht, ist früher Opfer eines sexuellen Missbrauchs gewesen.
So genügt es nicht, sich darauf zu beschränken, den Pädophilen einfach als pervers abzustempeln. Es ist vielmehr seine Persönlichkeitsstruktur und seine Handlungsweise zu verstehen. Das soll nicht hei en, sie jemals zu rechtfertigen, aber so kann ihm begegnet bzw. dem Opferschutz Rechnung getragen werden, sowohl im Falle einer Ersttat als auch einer Wiederholungstat. Der Glauben, es sei möglich, eine eindeutige Perversion zu diagnostizieren, die dann ebenso eindeutig einer gesicherten Behandlung zugeführt werden kann, stellt sich als Irrtum heraus. Entscheidend ist vielmehr die Kenntnis der psychischen Struktur der Täter und das Wissen um die menschliche Triebdynamik.
5.2.1 Geschlecht der Täter
Die angesichts der zunehmenden Diskussion über Frauen als Täterinnen wichtige Frage, ob und inwiefern das Geschlecht des Täters für das Ausmaß der Traumatisierung eine Rolle spielt, ist bisher fast völlig ignoriert worden. Bei den wenigen Untersuchungen, die dieser Problematik nachgingen, zeigte sich ein Trend in die Richtung, dass Jungen sexuellen Missbrauch durch Männer negativer erleben als sexuellen Missbrauch durch Frauen.
Sexueller Missbrauch an Kindern wird nach dem Ergebnis fast aller Studien hauptsächlich durch Männer ausgeübt. Was also das Geschlecht des Täters angeht, liegen die Zahlen zwischen 93,2% und 99% für männliche Täter und 1,0% bis 6,8% für weibliche Täter. Auch in ausländischen Studien liegt der Anteil von Frauen als Täterinnen meist unter 10%.
In den letzten Jahren wurde in Deutschland verstärkt über sexuellen Missbrauch durch Frauen diskutiert. Dadurch könnte es für Männer einfacher geworden sein, sich einzugestehen, dass ein Junge durch eine Frau sexuell missbraucht werden kann. Dies widersprach bislang allem, was ein Junge über Geschlechtsverhältnis gelernt hat. War es für Männer schon schwierig genug, einen sexuellen Missbrauch durch einen Mann für sich zu akzeptieren, dürfte es bei einem durch eine Frau verübten noch wesentlich schwieriger gewesen sein.
5.2.2 Alter der Täter und Täterinnen
Über den 1991 bei der Polizei aufgezeigte Fälle von sexuellem Missbrauch (§176 StGB, BRD einschließlich neuer Bundesländer) waren rund 20% der Beschuldigten jünger als 21 Jahre (vgl. Bundeskriminalamt 1991).
Nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen liegt das Alter der Täter im Wesentlichen unter 40 Jahre und meist Anfang bis Mitte 30. Hinsichtlich der Altersstruktur der Täter zeigen die Studien also, dass etwa ein Drittel der Täter selbst noch Kinder oder Jugendliche sind. Nur etwa ein Zehntel ist über 50 Jahre. Der überwiegende Teil der Täter ist zwischen 19 und 50 Jahre alt.
Daraus ergibt sich, dass viele Kinder und Jugendliche durch Gleichaltrige sexuell missbraucht werden; nach der Russel-Studie wurden beispielsweise 15% der innerfamiliären Frauen durch gleichaltrige Familieangehörige missbraucht.
Nur wenige Studien beschäftigen sich mit der Frage, ob das Alter des Täters einen Einfluss auf die Folgenentwicklung beim Opfer hat. Die wenigen Studien allerdings kamen alle zu dem gleichen Schluss, dass das Trauma durchschnittlich umso größer ist, je älter der Täter war. Übereinstimmend stellen sie fest, dass im Durchschnitt das Trauma mit dem Altersunterschied zwischen Opfer und Täter wächst.
5.2.3 Schichtzugehörigkeit
Bei sexueller Gewalt wird häufig vermutet, dass Täter und Opfer meistens aus sozial benachteiligten Schichten stammen. Diese Annahme bestätigt sich lediglich durch Betrachtungen sexueller Gewaltdelikte, die angezeigt bzw. bei denen ein Urteil gesprochen wurde. Gewaltdelikte in der Mittel- oder Oberschichtkommen wesentlich seltener zur Anzeige als Sexualdelikte in der Unterschicht. Der höhere soziale Status ermöglicht eine Verschleierung und Geheimhaltung des Delikts. Selektive Stichproben zeigen keine bedeutsamen Schichtunterschiede.
In der neueren Literatur und auch in offiziellen Informationsbroschüren sind die Täter als sozial bestens integriert beschrieben. Die Täter sind Männer aller sozialer Schichten. Männer, wie sie uns tagtäglich begegnen, als Elternteil, Nachbar oder als Kollege, als Hausmeister, Zahnarzt, Beamte, Handwerker, Arbeiter oder Akademiker. Die Annahme, dass sexueller Missbrauch ein Problem der unteren sozialen Schichten ist, wurde noch bis vor wenigen Jahren selbst von Wissenschaftlern angenommen.
Nach einer neueren Studie von Bange stammen 50 % der Opfer sexuellen Missbrauchs aus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel werden der unteren Mittelschicht zugeschrieben und nur ein Zehntel ist der Unterschicht zuzuordnen.
5.2.4 Strategien der Täter
Sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen geschieht nicht aus Versehen, im Affekt oder ohne das dem Täter klar ist, was er tut. Die Taten sind in der Regel bewusst geplant, strategisch angelegt und zielstrebig durchgeführt. Budin und Johnson und Conte, Wolf und Smith haben Täterinterviews durchgeführt und diese gebeten, ihr ideales Opfer und ihre Strategien zu beschreiben. Es werden Kinder ausgewählt, bei denen mit geringem Widerstand und geringem Entdeckungsrisiko gerechnet werden muss. Häufig werden passive, ruhige, verstörte, einsame Kinder möglichst aus gestörten Familienverhältnissen ausgewählt. Kinder, die bereits sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben, sind leider besonders leichte Opfer.
Allerdings muss hier vor einer Verallgemeinerung gewarnt werden. Es sind nicht nur bedürftige, emotional deprivierte Kinder, sonder auch Kinder, die einen offenen und freundlichen Eindruck machen und vertrauensvoll auf Erwachsene zugehen. Hier setzen die Täter auf die Vertrauensseeligkeit dieser Kinder.
Zum Abschluss möchte ich einen Auszug aus einem Täterinterview vorstellen. Ich war sehr erschüttert, als ich las, mit welcher Raffinesse die Täter wehrlose und verletzliche Kinder identifizieren, wie bewusst sie diese Verwundbarkeit ausnutzen.
"Nimm dich ihrer an, sei nett zu Ihnen. Ziele auf Kinder ab, die kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben. Oder suche Kinder, die bereits Opfer waren. Suche nach irgendeiner Art von Mangel. Ich würde ein Kind suchen, das nicht sehr viele Freunde hat, weil es dann leichter sein wird, es zu beeinflussen und sein Vertrauen zu gewinnen. Halt Ausschau nach einem Kind, das leicht zu manipulieren ist. Es wird alles mitmachen was Du sagst. Ich würde es Glauben machen, dass ich jemand bin, dem es vertrauen und mit dem des sprechen kann. Als Missbraucher kannst du ein Kind aussuchen und anfangen, dem Kind besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie werden darauf anspringen und leicht manipulierbar sein. Wenn die Eltern die trauen, dann kannst Du es auch einrichten, dass sie dich als Babysitter nehmen. Du wirst allein mit dem Kind sein, und das Kind wird seine Eltern nicht mögen. Wähle Kinder aus, die ungeliebt sind. Versuche nett zu ihnen zu sein, bis sie dir vertrauen und erwecke den Eindruck, dass sie von sich aus bereitwillig mitmachen. Benutze Liebe als Köder. Sag ihr, dass sie jemand besonderes ist. Wähle ein Kind aus, dass bereits missbraucht wurde. Dein Opfer wird denken, dass diesmal weniger Schlimmes geschieht. Suche ein Kind aus, dass nach Hilfe sucht, dass verletzlich ist... Bring ihre Eltern dazu, den Täter zu vertrauen. Arbeite langsam. Bringe möglichst viele Menschen, die dem Kind nahe stehen dazu, Dir zu vertrauen. Beobachte das Opfer, wenn er/sie freundlich ist, wenn sie anfangen mich ziemlich zu mögen, dann wird es ungefährlich sein zu versuchen, sie zu berühren... Wähle ein isoliertes und stilles Kind. Sie wollen jemanden ganz für sich haben. Als erstes musst du dem Opfer totale Angst machen. Dann isoliere das Opfer, sodass niemand weiteres um es herum ist. Der nächste Schritt zielt darauf ab, das Kind glauben zu machen, dass alles in Ordnung ist, sodass sie nicht hinrennen und was erzählen. Du kannst sie überzeugen, dass es nichts Schlimmes damit auf sich hat, oder Druck auf das Kind ausüben, nichts zu berichten. Gebrauche Gewalt und Zwang".
Diese Schilderungen von Tätern entlarven es als Mythos, dass die Kinder die sexuellen Kontakte initiieren.
Es gibt jedoch nicht nur diese Art von Tätern. Das zeigen allein die Unterschiedlichkeiten der durchgeführten Handlungen und das Spektrum der Machtmittel, die Männer anwenden. Den Prozess von Beziehungsaufbau nennen Conte u.a. auch, langsame Desensibilisierung. Zunächst erfolgen Körperkontakte sehr langsam und in Form von sozial bewilligten Berührungen wie z.B. inden-Arm nehmen. Es folgen scheinbar zufällige Berührungen der Brust und der Genitalien bis es schließlich zu massiven Übergriffen kommt. Kinder begreifen häufig nicht, was passiert. Die Täter erklären, sie würden ein Spiel spielen, das Kind sexuell aufklären, oder sie tun so, als würde überhaupt nichts besonderes passieren. Wenn die Kinder begreifen, woher ihr komisches Gefühl kommt und warum sie das Zusammensein mit dem Mann in einigen Situationen genießen und in anderen nicht, fühlen sie sich oft mitschuldig. Dieses Schuldgefühl wird von den Tätern gezielt verstärkt. Oftmals belohnen die Täter auch für die sexuellen Handlungen mit Geschenken, Geld, Privilegien und Zuwendung. Ebenso wird vom Täter häufig die Isolation forciert. Dadurch wird das Kind abhängiger vom Täter und hat gleichzeitig weniger Personen, an die es sich um Hilfe wenden kann.
5.2.5 Selbst erlebte sexuelle Gewalterfahrung der Täter
Der Prozentsatz der Täter, die selbst als Kind sexuelle Gewalt erfahren haben, schwankt zwischen 37% und 57%.In der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die selbst sexuelle Gewalt ausgeübt haben, muss stets die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ebenso bei der Arbeit mit erwachsenen Tätern.
Wie schlimm die Angst zum Täter zu werden für eine Betroffenen sein kann, verdeutlicht folgende Aussage: Was für mich aber am allerschrecklichsten ist, ist die Angst, dass ich genau dasselbe mit meinen oder mit anderen Kindern machen könnte. Ich glaube, wenn mir das passieren sollte, dass wäre der einzige Punkt, wo ich sofort Selbstmord begehen würde. Das würde ich nicht aushalten."
5.2.6 Frauen als Täter
In letzter Zeit kommen mit steigender Tendenz Frauen und Männer in die Beratungsstellen, die von ihren Müttern, Tanten oder Babysitterinnen sexuell missbraucht wurden. Durch die vermehrte Medienberichterstattung und Hinweise auf Fortbildungen ist ein weiteres Tabu entkräftet worden.
Ich merkte, dass es vielen Leuten unangenehm ist wenn ich meine Geschichte erzähle. Die Leute winden sich irgendwie. Es ist fast als würden sie mir nicht glauben. Ich kann nicht einfach meine Geschichte erzählen, ohne sie anschließend zu erklären. Die Leute denken gerne in Kategorien. Wenn Du also über Frauen als Sexualtäterinnen sprichst, zerstörst du eine ganze Reihe von Mythen: Frauen haben keinen Sexualtrieb, Frauen sind sanft. Frauen sind passiv. Wie konnte eine Frau so etwas mit einem Kind machen?
Aber die Leute müssen das hören. Sie müssen hören: ich bin ein Inzest-Opfer und es war meine Mutter. Auch Frauen missbrauchen, und wenn wir das nicht aussprechen, kann keine Heilung erfolgen!".
Verschiedene Autorinnen gehen davon aus, dass es mehr Täterinnen gibt als durch Untersuchungen aufgedeckt werden. Neben dem Argument, dass Jungen und Mädchen bisher erst zögerlich über sexuelle Gewalt durch Frauen sprechen, führen sie folgende Gründe für ihre Meinung an.
Blair Justice und Rita Justice meinen, dass einige Formen sexueller Gewalt durch Frauen in der Diskussion nicht beachtet würden. Dazu zählt zum Beispiel die sexualisierte Körperpflege. Manchmal missbrauchen Frauen ihre Opfer auf offen sexuelle oder gewalttätige Weise, aber häufiger und typischer ist eher subtiler Missbrauch, ohne oder fast ohne den Einsatz von Gewalt. Missbrauch durch Frauen versteckt sich oft hinter Kuscheln und Schmusen und der täglich liebevollen Fürsorge. Diese Vergewaltigung ist oft verschwommener, weniger eindeutig. Aber sie hat die gleiche verheerende Wirkung.
Die Ergebnisse der Studie Wie Mütter ihre Söhne sehen" von Gerhard Amendt lassen solch These als begründet erscheinen. Dort zeigt sich beispielsweise, dass viele Mütter ohne medizinischen Gründe den Penis ihrer Söhne manipulieren, um einer Vorhautverengung vorzubeugen. Ebenfalls weist er darauf hin, dass der sexuelle Handlungsspielraum von Müttern und Vätern sehr oft unterschiedlich definiert wird. Als Beispiel dazu: Der Blick von schräg oben aus der Nachbarwohnung von gegenüber. Ein Vater betupft vorsichtig die zarten Porzellanbrüste seiner elfjährigen Tochter, während gleiche Szene, gleicher Ort die Mutter den zwölfjährigen Sohn gewohnheitsmäßig in die Genitalhygiene einweist. Aus der Sicht des denunziationsbereiten Nachbarn könnte sich der Waschvorgang als unzüchtige Handlung des Vaters, begangen an der minderjährigen Tochter darstellen, während der entsprechende Vorgang von Mutterhand betrieben Chancen hat, unter Mutterliebe rubriziert zu werden".
Es wird auch angenommen, dass viele Täterinnen übersehen werden, weil sexuelle Übergriffe durch Frauen häufiger innerhalb der Familie stattfinden und Kinder über sexuellen Missbrauch durch Angehörige am beharrlichsten schweigen.
Wie sexuelle Ausbeutung durch eine Mutter aussehen kann und wie sie vom betroffenen Opfer erlebt wird, illustriert folgende Aussage.
Ja. Es war ekelhaft, ich muss damals ungefähr 10 Jahr alt gewesen sein. Sie legt eine Decke auf dem Boden aus und sagte: Komm wir turnen. Das war manchmal am Anfang lustig. Lustig? Jetzt wo sie fragen kommt mir in den Sinn, dass sie in diesen Monaten lieb und fröhlich war. Ich wurde belohnt, durfte dann mit einem Teller Brei ins Bett oder gemeinsam mit ihr ein Hörspiel anhören. Wir waren beide nackt. Sie lag auf dem Boden und wir turnten aufeinander rum... dann öffnete sie die Beine und wollte es von mir. Ich musste sie mit dem Mund befriedigen. Es war mir damals nicht so klar, dass das Unrecht war. Ich hatte große Angst".
Anmerkung: Der autobiographische Roman Still wie die Nacht" von Manfred Bieler illustriert wie schwerwiegend sexueller Missbrauch durch Frauen auf das Leben von Jungen wirken kann.
5.3 Psychogramm der Opfer
Nicht nur Kinderpsychiater und Psychologen stellen sich immer wieder die Frage, ob bestimmte Kinder in höherem Maße gefährdet sind als andere Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden. Nach Hunderten von Fällen im Laufe der Berufspraxis ist die Versuchung groß, eine Typologie zu entwickeln, in der Hoffnung, damit die Prävention und den Opferschutz wirksamer zu unterstützen. Es scheint naheliegend, sich dabei am Lebensalter des Kindes zu orientieren und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale herauszufiltern, die Einblick geben, wann und auf welche Weise ein Kind am besten geschützt werden könnte. Allein, weder das Lebensalter noch die sozialen Umstände der Herkunftsfamilie und des Umfeldes können dafür sichere und eindeutige Kriterien liefern. Im Grunde ist es nur möglich, je nach Alter einzelner Lebenssituationen zu beschreiben, in die ein Kind geraten kann und vor deren Gefahren daher rechtzeitig zu warnen ist.
5.3.1 Alter der Opfer
Ein Mythos, der bis Heute das Denken vieler Menschen über sexuellen Missbrauch an Kindern bestimmt, lautet, dass nur pubertierende Mädchen im Lolitaalter sexuell ausgebeutet werden. In keinem Alter sind Kinder vor sexuellen Übergriffen geschützt. In Wirklichkeit sind Mädchen und Jungen jeden Alters gefährdet. Jedes Alter kommt in Frage. Kinder werden im Säuglings- und im Kleinkindalter, im Kindergarten- und Grundschulalter sowie in der Pubertät sexuell missbraucht.
In vielen Fällen wird der sexuelle Missbrauch zwar erst im Alter von 15 bis 16 Jahren oder gar noch später aufgedeckt, doch stellt sich in der Therapie oft sehr schnell heraus, dass er meist wesentlich früher begonnen hat. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (1985) sind 45% der Opfer noch keine 10 Jahre alt. Die Dunkelfelduntersuchungen belegen ebenfalls, dass sexueller Kindesmissbrauch oft lange vor der Pubertät anfängt. Bei den Mädchen liegt das Durchschnittsalter zwischen 9, und 11,4 Jahren und bei den Jungen schwankt das Durchschnittsalter zwischen 9,8 und 12 Jahren.
5.3.2 Geschlecht der Opfer
Nicht nur Mädchen sondern auch Jungen werden sexuell missbraucht. Nach Prävalenzschätzungen erfahren etwa 2- bis 4-mal so viele Mädchen wie Jungen sexuelle Gewalt. In diese Richtung deuten auch Untersuchungen mit Zufallsstichproben aus der Allgemeinbevölkerung. Im Durchschnitt befinden sich dort rund 70% weibliche und 30% männliche Opfer. In neuen Untersuchungen kommt man zu der Annahme, dass etwa jedes vierte Mädchen und jeder 12 Junge in der Bundesrepublik Deutschland sexuell missbraucht werden. Aus den Untersuchungsergebnissen geht übereinstimmend hervor, dass für Mädchen ein wesentlich größeres Risiko besteht, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden, als für Jungen. Jedoch wird deutlich, dass auch für Jungen die Bedrohung durch sexuelle Gewalt erheblich ist.
5.3.3 Männliche Opfer
Sexuelle Gewalterfahrungen sind keine Seltenheit, sondern totgeschwiegener Alltag im Leben vieler Jungen. Insgesamt erscheint die Annahme realistisch, dass etwa jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht wird. Es fehlen Berichte sexuell missbrauchter Männer und es gibt auch nur wenige Veröffentlichungen, die sich explizit mit Jungen als Opfer sexueller Gewalt auseinandersetzen. Warum fällt es offenbar schwerer, Jungen als Opfer sexueller Gewalt wahrzunehmen? Und warum gibt es bisher kaum Erfahrungsberichte sexuell missbrauchter Männer? Zum einen liegt es an der gesellschaftlich tief verwurzelten Rollenerwartung. Man erwartet von Jungen, dass sie stark und aktiv sind, Situationen kontrollieren und beherrschen. Und: sie müssen sich wehren können.
Von Jungen wird sehr früh eine Selbstständigkeit gefordert. Ein richtiger Junge wird mit seinen Problemen alleine fertig und braucht keine Hilfe von anderen. Jungen werden dazu erzogen, ihre Gefühle zu kontrollieren, sich im Griff zu haben. Sie müssen sich stets durchsetzen können. Und genau ein solcher Junge entspricht dem Bild eines ganzen Kerls. Ruhiges, sanftes und ängstliches Verhalten wird oft noch abgewertet. Ein zurückhaltender und eher passiver Junge gilt als Memme, hat keinen Mumm in den Knochen und ist ein Feigling. Ein Junge, der sich nicht wehren kann, gilt als unmännlich. Aus dieser Rollenerwartung erklärt sich, warum Jungen als Opfer sexuellen Missbrauchs übersehen werden und natürlich auch, warum es Jungen schwer fällt, über den sexuellen Missbrauch zu berichten. Dazu kommt, dass männliche Sexualität im Jugendalter als etwas Positives und Abenteuerliches dargestellt wird.
Sexuelle Erlebnisse zwischen Jungen und Männern werden als Spielerei abgetan, die zwischen Jungen und Frauen dagegen als aufregend oder besonderes Erlebnis bezeichnet.
Da Jungen ebenso wie Mädchen überwiegend von Männern sexuell missbraucht werden, kommt das Tabu der Homosexualität hinzu. Dieses Tabu ist von zentraler Bedeutung für die Beschäftigung mit dem sexuellen Missbrauch von Jungen: Die Jungen fürchten sich davor, homosexuell zu sein. Eltern leugnen den sexuellen Missbrauch ihres Sohnes aus Angst, ihr Sohn gelte als homosexuell. Sexuelle Gewalt gegen Jungen kommt genau wie bei Mädchen in allen Schichten vor und steht in keinem Zusammenhang mit Alkohol-, Drogen- oder sonstigen auffälligen seelischen Problemen des Täters. Im Unterschied zu Mädchen werden Jungen häufiger on Personen missbraucht, die nicht der unmittelbaren Familie angehören, z.B. Gruppenleiter, ältere Jungen u.s.w.. Oft besteht auch ein autoritäres Verhältnis zwischen den Jungen und dem Täter.
Lange Zeit gab es so gut wie keine Untersuchungen über die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs auf Jungen und Männer. Obgleich etwa ein Viertel aller missbrauchten Kinder Jungen sind, werden sie kaum in den Untersuchungen berücksichtigt. Erst in den letzten Jahren sind ein paar Studien erschienen, die sich systematisch mit den psychischen und sozialen Auffälligkeiten sexuell missbrauchter Jungen befassen. Dabei zeigte sich, dass Jungen ähnlich wie Mädchen unter bedeutenden kurz-, mittel- und langfristigen Folgen leiden. Die Auswirkung sexuellen Missbrauchs von Jungen unterscheiden sich nur wenig von denen des sexuellen Missbrauchs an Mädchen.
Es fing an, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Ich bin damals in eine Jugendgruppe eingetreten, in eine Pfadfindergruppe, mit sehr viel Spaß und Freude. Der Leiter dieser Pfadfindergruppe war ein Mann, der bei uns im gleichen Haus gewohnt hat. Er hatte Medizin studiert, seine Doktorarbeit fertig und war deswegen sehr angesehen. Er war an sich sehr sympathisch, freundlich und nett für meine Eltern, als Leiter der Jugendgruppe eine Vertrauensperson. Sie kannten ihn eben, er wohnte ja im gleichen Haus. Und zu dem bin ich dann ab und zu mal hoch gegangen, wenn zu Hause nichts weiter los war. Zu dem raufgehen oder zu irgendeinem Gruppentreffen gehen, das lief am Anfang ganz normal ab. Und irgendwann fing es dann an, dass er Übergriffe gestartet hat, Kabbeleien. Er hielt meine Hand an sein Geschlechtsteil und fing an zu reiben. Damit kam ich überhaupt nicht klar. Das war jemand zu dem ich Vertrauen gehabt habe, und es war eine Situation, in der ich vorher nie gewesen war. Das war sehr verwirrend. Ich konnte ihn in dem Moment nicht wegstoßen, weil ich nicht wusste, ist es Spiel oder etwas anderes. Mit Sexualität hatte ich bis dahin auch nie etwas zu tun gehabt. Er tat so, als wollte er mich aufklären. Dass das eben ganz normal sei, ich sollte aber keinem anderen Menschen davon erzählen, weil es dann Schwierigkeiten gäbe. Das wurde dann immer aufdringlicher und unangenehmer, weil ich mit meinen Eltern eigentlich wenig zu tun hatte und diese Jugendgruppe mein Halt und meine Bindung war. Deswegen war ich überhaupt nicht in der Lage zu sagen, das will ich nicht. Es war aussichtslos für mich".
5.4 Bekanntschaftsgrad zwischen Täter und Opfer
Im Bezug auf den Bekanntschaftsgrad gibt es zwei wesentliche Vorurteile:
Die Vorstellung, dass die Täter in der Regel Fremde seien.
Die Vorstellung, dass Väter hauptsächlich Täter seien.
Die Ergebnisse sind je nach zugrundeliegender Stichprobenart sehr unterschiedlich.
Wie aus der Abbildung ersichtlich wird entgegen beider Vorurteile wird der deutlich größere Teil der Jungen und Mädchen (ca. 45 % bzw. 50%) von bekannten Personen missbraucht, die nicht zur Familie gehören. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit bei Jungen größer als bei den betroffenen Mädchen (rund 25%), dass sie sexuelle Gewalt von einem Fremden erfahren. Demgegenüber werden Mädchen (mit ca. 30%) deutlich häufiger von Familienmitgliedern ausgebeutet als Jungen (15%).
Eine genauer Differenzierung für die Begriffe ´bekannte, nicht verwandte Täter´ kann nicht gegeben werden. Dazu zählen Freunde der Familie, Lehrer, Nachbarn, Ärzte, Jugendgruppenleiter, Erzieher, Pfarrer und viele mehr. Sexueller Missbrauch in der Kernfamilie unterliegt einer besonderen Dynamik und wird in der Öffentlichkeit und Wissenschaft mehr beachtet.
Dort, wo Kinder einen Schutzraum haben sollten und das größte Vertrauen haben sollten: Nämlich in ihrer Familie dort kommt sexueller Missbrauch am häufigsten vor, besonders von Mädchen.
Nachtrag: Diese Aufschlüsselung gilt inzwischen schon als veraltet. Aktualisierte Statistiken gehen sowohl bei mißbrauchten Mädchen wie bei Jungen von einer Verteilung 30% direkte Verwandschaft, 60% nächstes Umfeld (Freunde/Bekannte, meist der Eltern und z.B. Betreuer/Erzieher/Kirche etc.) und 10% so genannter Fremdtäter aus.
5.5 Häufigkeit und Dauer des sexuellen Missbrauchs
300.000 Fälle sexueller Gewalt an Kindern hat sich als Zahl so weit durchgesetzt, dass sie auch von offizieller Seite publiziert wird: In der Expertise des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. In der BRD liegen bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen über die (jährliche) Häufigkeit vor, sodass die einzigen Angaben dazu in den Statistiken der Kriminalpolizei über angezeigte Fälle zu finden sind. Die Zahl der bekannt gewordenen Taten darf jedoch nicht mit dem tatsächlichen Ausmaß sexueller Gewalt gleichgesetzt werden, denn wie bereits erwähnt ist bei sexuellen Straftaten die Dunkelziffer sehr hoch.
In der öffentlichen Diskussion wird durch die unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse über die Häufigkeit sexueller Gewalt an Kindern Unsicherheit und Verwirrung gestiftet. Es sollten großräumig angelegte wissenschaftliche Untersuchungen in Bezug auf die Inzidenz (Untersuchungen zur Inzidenz ermitteln, wie viele neue Fälle innerhalb eines bestimmten Zeitraums hier ein Jahr auftreten) durchgeführt werden. Um die Unsicherheit und Verwirrung in Bezug auf die Häufigkeit zu beenden, muss es eine allgemeingültige Definition von sexueller Gewalt an Kindern geben. Bei der Heranziehung von Zahlen und Fakten zur sexuellen Gewalt gegen Kinder sollte daher immer eine Klarstellung der Definition und ein Miteinbeziehen der forschungsmethodischen Bedingungen erfolgen. Die Prozentzahlen der Untersuchungen zu der Dauer von sexuellem Missbrauch unterscheiden sich vor allem zwischen den verschiedenen Untersuchungen:
Allgemeinbevölkerung: 70% aller sexuellen Übergriffe inner- oder außerhalb der Familie haben einmaligen Charakter, bei innerfamiliärer sexueller Gewalt sind 40% einmalige Handlungen.
Klinische Studien: Bei innerfamiliärem sexuellem Missbrauch wurden 17% einmalige Handlungen festgestellt.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass länger andauernde Missbrauchsbeziehungen für die Betroffenen meist traumatisierender sind und sie deshalb relativ häufig Hilfe in klinischen Einrichtungen suchen.
Finkelhor errechnete, dass sexueller Missbrauch im Durchschnitt 31 Wochen andauert. Draijer ermittelte eine durchschnittliche Dauer der Mehrfachtaten von 3,8 Jahren. Bei Tätern aus dem Bekanntenkreis reduziert sich in der Regel die Dauer. Je älter die Mädchen der Erhebung waren, desto länger wurden sie missbraucht. Die Missbrauchsdauer stieg kontinuierlich an. So wurden 25% der bis 5 Jahre alten, 36,9% der 6 bis 13 jährigen, 52,2% der 14 bis 25 Jahre alten Mädchen länger als 1 Jahr, und viele von ihnen über Jahre hinweg missbraucht.
Insgesamt verdeutlichen die Darstellung, dass viele Kinder über einen weiten Teil ihrer Kindheit immer wieder sexuellen Missbrauch erfahren. Selbst wenn es sich um eine einmalige Tat handelt, so kann man nie wissen, ob es sich wiederholt.
5.6 Psychogramm des Systems
Bisher ist es wahrscheinlich selten vorgekommen, dass man tatsächlich von einem Kind weiß, dass es sexuell missbraucht wird. Kinder geben zwar oft Andeutungen und Hinweise in der Hoffnung, dass man sie versteht und ihnen geholfen wird. Selbst wenn die Hinweise eindeutig sind, fühlen sich die meisten Erwachsenen überfordert durch ihre Ahnung oder ihr Wissen. Die Realität wird häufig ausgeblendet, der Missbrauch bagatellisiert, dem Kind eine Mitverantwortung zugeschoben oder ihm nicht geglaubt. Ob das Kind überhaupt vom sexuellen Missbrauch erzählt, hängt vom Vertrauen ab, welches das Kind in bestimmte Erwachsene setzt.
5.6.1 Situation und Reaktion der Familie
Wie eine Familie damit umgeht, wenn der Verdacht besteht, dass ihr Kind sexuell missbraucht worden ist, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Hat das Kind genügend Vertrauen und beherrscht es eine Sprache, um über den sexuellen Missbrauch eindeutig zu sprechen? Will die Familie verstehen, wovon das Kind spricht? Glaubt die Familie dem Kind, das den sexuellen Missbrauch erlitten hat? Eine entscheidende Rolle inwieweit ein Kind unterstützt wird, ist auch die Nähe zum Täter. Ist der Täter eine Autoritätsperson für die Familie? Sind sie unter Umständen vom Täter finanziell abhängig? Kommt der Täter aus der Nachbarschaft? Kennt die Familie ihn gar nicht, kaum oder gehört er der Verwandtschaft an? Diese unterschiedlichen Faktoren sind entscheidend für den Umgang der Familie mit dem Kind und dem Täter.
Der Täter ist unbekannt
Am ehesten kann ein Kind Unterstützung von seiner Familie erhoffen, wenn der Täter der Familie nicht bekannt ist. Die Familie wird sich mit voller Empörung und Entsetzen zur Anzeige entschließen und den Täter zur Rechenschaft ziehen. Ihr Kind ist Opfer eines abartigen Triebtäters und Kinderschänders geworden und bedarf ohne wenn und aber Hilfe und Unterstützung.
Der Täter ist bekannt
Schon weniger Unterstützung von seiner Familie kann ein Kind erhoffen, wenn der Täter bekannt ist mit der Familie (wie z.B. Lehrer, Stadtrat, Hausmeister, Gruppenleiter usw.) Die Möglichkeit besteht aber, das alle Familienmitglieder sich mit dem Kind solidarisieren und die Familie mit Empörung reagieren kann. Aber, ob die Familie eine Strafanzeige erwägt, hängt davon ab, welche Folgen die Familie aus der Bestrafung fürchtet oder sich erhofft. Das ist ein angesehener Mann, wir kriegen nur Schwierigkeiten, gegen den kommt man sowieso nicht an; was sagen die Nachbarn, wenn das bekannt wird; nutzt es dem Kind, wenn der Täter bestraft wird. Das Kind hat schon genug mitgemacht, wollen wir es lieber schnell vergessen. Dies sind Überlegungen, die eine Rolle spielen, dass der Missbrauch nicht an die Öffentlichkeit kommt.
Der Täter ist nah
Ganz schwierig ist es, wenn die Familie in irgendeiner Form abhängig vom Täter ist. (z.B. Vermieter, Pfarrer, Erbonkel, Vorgesetzter) Kann sie dem Druck standhalten und für das Kind offen Partei ergreifen oder wird das Kind geopfert aus Angst vor den Konsequenzen, die die Familie zu tragen hätte?
Der Täter gehört zu uns
Der schwierigste Fall tritt ein, wenn der Täter aus dem engsten Familienkreis stammt. (z.B. Vater, Stiefvater, Bruder, Cousin, Onkel) Die Familie wird in einen inneren Konflikt gestürzt. Konfrontation mit dem Täter ist erforderlich. Familienstreitigkeiten stehen bevor. Soll die Familie zum Kind halten und den Täter so behandeln wie es gesetzlich vorgeschrieben ist und zwar derart, dass er bestraft wird? Oder soll sie zum Täter halten, der ja auch Mitglied der Familie ist und von dem die Familie vielleicht (materiell) abhängig ist. Deutlich wird, dass sich die beiden Verhaltensweisen ausschließen und eine Entscheidung schwierig ist. Eine Möglichkeit für die Familie ist, dass sie den sexuellen Missbrauch als nicht geschehen ansieht und darüber hinweg geht, weil die Konsequenzen der Familienmitglieder als zu schwerwiegend erscheint.
Betroffen durch den sexuellen Missbrauch sind letztendlich alle Familienmitglieder, da sie einer Familie angehören, in der Dinge passiert sind, über die öffentlich nicht gesprochen werden darf. Der Täter schämt sich in den seltensten Fällen für seine Handlung. Bei allen anderen Familienmitgliedern bleibt ein Gefühl von Scham zurück. Sie waren an der Tat zwar nicht beteiligt, sie gehören aber zur Familie. Sie schämen sich, von so einem Vater abzustammen oder sich so einen Mann ausgesucht und geliebt zu haben. Schafft es eine Familie nicht, den sexuellen Missbrauch zu besprechen, müssen die einzelnen Familienmitglieder ihr Leben lang dieses Familiengeheimnis wie einen Fluch mit sich tragen. Immer werden die Familienmitglieder sich als Außenseiter empfinden, weil sie aus einer Familie stammen, in der aus gesellschaftlicher Sicht Dinge passiert sind, die so schamvoll sind, dass sie verborgen werden müssen.
5.6.2 Situation der Mutter
Wenn ein Kind sexuell missbraucht wird, werden schnell Stimmen laut, die der Mutter und Ehefrau Vorwürfe machen. Man hört dann beispielsweise die Verwandten und Nachbarn nachdem der Mann von Frau X festgenommen wurde, weil er über ein Jahr die 14 jährige Tochter zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte:
Das hätte Frau X doch mitbekommen müssen; vermutet haben wir das ja schon lange so wie die Tochter rumlief und was der ihr alles geschenkt hat!
Ist doch kein Wunder, wenn die Mutter so oft bei ihren Volkshochschulkursen ist und die hübsche Tochter mit dem Vater allein lässt!
Verstehen kann man den Vater ja irgendwie; die hat ihn doch seit Jahren nicht mehr ins Bett gelassen!
Egal, wie Frau X sich verhält; immer wird ihr die Schuld gegeben.
Wenn sie sich selbstbewusst von ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter abhebt, eigene Wege geht oder sich beruflich auf dem Laufenden hält, so hat sie den Mann und auch die Tochter allein gelassen. Wenn sie seine gewaltsame und egoistische Art und Weise wie er sich an ihrem Körper befriedigt, nicht mehr ertragen will, so hat sie ihm angeblich unausgesprochen die Erlaubnis erteilt, dass er sich jetzt die Tochter vornimmt.
Wer so denkt und spricht macht es sich sehr einfach. Tatsächlich ist es so, dass sehr viele Ursachen beteiligt sind, wenn ein Missbrauch lange Zeit nicht aufgeklärt wird. Man spricht von Familiedynamik, wenn man die komplizierte Situation beschreiben will, in der es möglich wird, dass ein sexueller Missbrauch manchmal so spät aufgedeckt wird. Die Mutter als Schuldige zu betrachten ist genauso falsch, als wenn wir dem Opfer die Schuld für den Missbrauch zuschreiben.
Ich möchte an dieser Stelle ein Fallbeispiel vorstellen, dass uns die Situation der Mutter vielleicht etwas näher bringt.
Frau Brückner hatte ihre Stelle als gelernte Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin in einer großen Kanzlei aufgegeben, als sie mit Katarina schwanger war. Obwohl ihr der Beruf als damals 23jährige viel brachte, entschied sie sich gern für ihre neue Rolle als Hausfrau und Mutter. Das fiel ihr umso leichter, als ihr der Chef bei Antritt des Erziehungsurlaubes erklärte, dass er sie jederzeit wieder einstellen werde und er daran denke, sie später in einer höheren Position einzusetzen. Doch es kam anders als geplant. Kurz vor Ende des Mutterschaftsurlaubes wurde sie wieder schwanger, so dass sie ihre Stelle nicht antreten konnte. Ihr Mann hatte sich inzwischen zum Werksmeister in der Druckerei hochgearbeitet und konnte dort schlecht aufhören, da er gutes Geld verdiente, das sie für das neue Haus brauchten. Frau Brückner musste sich also schweren Herzens entschließen, auf ihre eigene Karrierewünsche zu verzichten, um den inzwischen zur Welt gebrachten Stefan und die nun dreijährige Katarina zu betreuen. Da sie sich aber trotzdem beruflich fit halten wollte, besuchte sie regelmäßig Abendkurse und Seminare, während der Vater mit den Kinder zu Haus blieb.
Vermutlich denkt nun jeder: Na und eine völlig normale Alltagsgeschichte, wie sie millionenfach vorkommt. Sicher. Doch mit der Zeit veränderte sich die Lage. Der Vater hatte seine Arbeit, ein, zwei Hobbys, während die Mutter sich um die Kinder sorgte und ihren Kursen nachging. Das alles hätte ohne weiteres längere Zeit so weiter laufen können. Doch dann begann die Beziehung sich zu verändern: Egon Brückner, ein eigentlich ganz liebevoller, ihr aber an Lebendigkeit unterlegener Mann, wollte mehr als immer nur arbeiten. Fußball spielen und Modellautos fahren und ab und zu gemeinsam essen gehen; das alles war ja ganz schön. Aber eigentlich hatte er mehr vom Leben erwartet. Doch es kam schlimmer. Nach einem Autounfall konnte er wegen einer Beinverletzung nicht mehr Fußball spielen. Passiv auf dem Platz rumstehen wollte er auch nicht. Er begann sich als Krüppel zu fühlen, zog sich immer mehr zurück und trank regelmäßig nach Feierabend Alkohol. Frau Brückner zeigte viel Verständnis und gab sich Mühe, ihm das Leben zu erleichtern. Der Zeitpunkt ist nicht mehr genau auszumachen, doch irgendwann konnte sie seine selbstmitleidigen Vorwürfe nicht mehr hören. Auch in sexueller Hinsicht fühlte sie sich immer unwohler, da er sich auch im Bett als unfähig beschimpfte. Hinzu kam, dass sie seine ständige Alkoholfahne immer ekelhafter und unerträglicher fand. So suchte sie häufiger nach Ausreden, wenn er mit ihr schlafen wollte. Er hingegen reagierte mit heftiger Eifersucht und unterstellte, dass sie heimlich etwas mit anderen Kursteilnehmern habe.
Wenn sie dann einmal nachgab, bereute sie anschließend die Begegnung, die sie oft als herzlos und mechanisch erlebte. An Trennung oder Scheidung hatte sie zwar auch schon gedacht, fühlte sich ihm und den Kindern gegenüber aber verpflichtet. Er igelte sich immer mehr ein und wirkte zusehends einsamer. Selbst die Kollegen am Arbeitsplatz waren es leid, seine häufig schlechte Laune zu ertragen, was sie ihn auch spüren ließen. Kurzum: Die Situation war unerträglich. Der einzige Lichtblick in seinem tristen Alltag war die lebendige und immer hübscher werdende Tochter Katarina, die über seinen Alkoholkonsum und seine Launen hinweg sah. Über Wochen und Monate war sie die fast einzige Person, die mit ihm mehr als ein paar Worte wechselte. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schmuste er des öfteren abends mit ihr zusammen auf dem Sofa, ohne dass es zu sexuellen Berührungen kam. Katarina empfand das anfangs als ganz angenehm, obwohl sie spürte, dass es sich eigentlich nicht gehörte. Erst Monate später kam es dazu, dass Katarina sich bei den abendlichen Schmusereien sexuell erregte, während er bis dahin seine eigene Erregung verbergen konnte. Nach und nach gelang es ihm, sie in eine zunehmend intensiver werdende Missbrauchsbeziehung zu verstricken, über deren Unrecht er sich natürlich im Klaren war.
Selbstverständlich bemerkte die Mutter die Veränderung in Egons, aber auch in Katarina Verhalten. Gleichzeitig nahm sie erleichtert zur Kenntnis, dass Egon in den letzten Monaten weniger über sein Leid klagte. Ihr war auch klar, dass Katarina und Egon sich seit längerem gut verstanden und am Wochenende richtig aktiv wurden. Mal gingen sie zum Schwimmen, dann kaufte er ihr schöne Kleider. Offensichtlich hatte er seine Krise überwunden und begann nun, sich neu zu orientieren. Auch an dem Verhalten ihrer Tochter fiel ihr einiges auf. Für ihr Alter zeigte sie sich in der letzten Zeit etwas kokett und etwas zu aufreizend. Andererseits befand sie sich mitten in der Pubertät und wollte vielleicht nur ihre Wirkung auf andere Männer ausprobieren.
Auch als ihr Sohn eine Bemerkung machte: Du Mami, was macht der Papi immer mit Katarina? Ist sie zwar etwas besorgt, doch sie streicht die grausige Vermutung rasch aus ihren Gedanken. Das würde sie ihm nun nie zutrauen. Leider irrte sie sich.
Wo liegt in diesem Beispiel die Schuld der Mutter? Darin, dass sie so eine Tat ihrem Ehemann nicht zutraut? Oder darin, dass sie sich auf Volkshochschulen weiterbildet? Oder vielleicht darin, dass sie auf Sexualität mit ihrem egoistischen Mann keine Lust mehr hat? Sicherlich nicht! Die theoretischen möglichen Vorwürfe sind zahlreich. Doch der Mutter eine Schuld zu geben ist abwegig. Auch wenn Mütter die Aufgabe, ihre Kinder zu schützen, nicht erfüllen, so sind sie dennoch nicht verantwortlich für den sexuellen Missbrauch. Wie sie sich auch verhalten, die Verantwortung liegt und bleibt immer beim jeweiligen Täter.
Andererseits gibt es aber auch tatsächlich Situationen oder Familien, in denen sexueller Missbrauch bekannt ist, ohne das von der Mutter oder anderen Familienangehörigen etwas unternommen wird. Auch hier können die Gründe vielfältig sein. Die Situation der Mütter, deren Kinder sexuell missbraucht werden kann man folgendermaßen einschätzen:
So kann es sein, dass
Die Mutter mit der Erziehung mehrerer, schwieriger Kinder hoffnungslos überfordert ist und Andeutungen und Beobachtungen nicht ernst nimmt;
Die Mutter unter schweren Depressionen einer anderen physischen Krankheit leidet und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist;
Die Mutter als Kind selbst sexuell missbraucht wurde und Angst davor hat, dass ihre eigene Erinnerung über sie hereinbricht;
Die Mutter immer wieder auf die Beteuerung des Partners hereinfällt, nach der das Kind sich das Ganze nur einbildet;
Die Mutter Angst davor hat, dass ihre Verwandten sie wegen der Schande verachten, oder das die Familie auseinander bricht und sie dafür die Schuld bekommt.
Ebenso kann es vorkommen, dass die Mutter schon etliche Anläufe beim Jugendamt und beim Gericht unternommen hat, sie aber die Tat nicht beweisen konnte. Richtig wäre es natürlich, wenn die Mutter die solche Taten vermutet ihren Gefühlen trauen und sich gegen die Täter auflehnt. Häufig ist es jedoch so, dass in einer Familie, in der sexuelle Gewalt stattfindet, auch andere Dinge aus dem Gleichgewicht geraten sind. So herrschen in gestörten Familien manchmal sehr starre Regeln, sie passen sich nur schwer an veränderte Bedingungen an oder tauschen sich im Alltag kaum aus.
Es macht wenig Sinn nach den Fehlern des mütterlichen Verhaltens zu suchen, viel mehr gilt es zu ergründen, was eine Mutter tun kann, damit es erst gar nicht zu sexuellem Missbrauch kommt bzw. wie sie sich verhalten sollte, falls ihr Kind Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. Kinder werden auch Opfer sexuellen Missbrauchs, wenn die Mütter alles richtig gemacht haben. Das bedeutet, dass bei sexuellem Missbrauch von Kindern nicht zwangsläufig irgendetwas in der Mutter-Kind-Beziehung nicht stimmt. Zusammenfassen kann gesagt werden, dass Mütter zum Schutz ihrer Kinder von sexuellem Missbrauch beitragen können und sollen, sie jedoch in 96% aller Fälle keine Verantwortung für den Missbrauch selbst tragen. Für den Umgang mit Kindern, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, ist es sehr wichtig, die Mutter als Beschützerin zu gewinnen und sie in dieser Rolle zu unterstützen.
Zum Abschluss möchte ich noch kurz ein Beispiel vorstellen, welches zeigen soll, dass weitaus häufiger als bisher wahrgenommen Mütter ihre Töchter und Söhne bewusst oder instinktiv schützen bzw. zu schützen versuchen.
"Bis zu meinem 33. Lebensjahr habe ich auf meine Mutter geschimpft. Warum hatte sie mich nicht geschützt, als mein Vater mich vergewaltigte?" Im Rahmen meiner Therapie kamen mir fast 30 Jahre später andere Erinnerungen wieder. Ich sah neue Zusammenhänge: Einige Monate nach dem sexuellen Missbrauch, meine Mutter hatte meine Schwester geboren, wurde bei meiner Mutter eine schwere Blutkrankheit diagnostiziert, eine Krankheit, an der sie dann 13 Jahre später starb. Sie hatte mein Blut gesehen und bekam selbst eine Blutkrankheit! Ein Zufall...? Zunächst hie es, sie habe nur noch einige Wochen zu leben. Mutter hatte einen eisernen Lebenswillen. Ihr Ziel war es, so lange durchzuhalten, bis dass wir groß waren. Auf ihrem Sterbebett bat sie mich, auf die kleinen gut aufzupassen, der Vater sei schlecht für die Kinder. Ich entdeckte noch einen Zusammenhang: Es gab viele Gründe, aus denen heraus ich auf meine Mutter wütend war; einer war, dass ich nie ein eigenes Zimmer bekam. Ich musste mit meiner Schwester immer über dem Elternschlafzimmer schlafen. Der Fußboden unseres Zimmers hatte Holzdielen und neben meinem Bett ging ein Heizungsrohr an der Wand entlang, ein Rohr, dass eine Etage tiefer neben dem Bett meiner Mutter weiter verlief. Mutter hatte die Angewohnheit, immer dann, wenn abends jemand in unser Zimmer lief und wir z.B. nur mal aufs Klo gingen und der Fußboden knarrte, gegen dieses Rohr zu klopfen."
"Meine Mutter hatte mich also doch geschützt. Leider haben wir Frauen der Familie unsere Wut auf den Täter gegen uns selbst und gegeneinander gerichtet. Meine Mutter hatte nicht die Kraft und den Mut, ihn mit seiner Tat zu konfrontieren und sich von ihm zu trennen. Doch sie hat versucht, mich und meine Schwester wenigstens vor weiterem Missbrauch zu schützen. Wäre meine Mutter doch 30 Jahre später geboren! Heute hätte sie sicherlich mehr Möglichkeiten, sich Hilfe zu hohlen. Heute wäre sie mir vielleicht eine bessere Mutter".
5.6.3 Situation der Geschwister
Sexueller Missbrauch durch Familienangehörige hat immer mehrere Opfer, denn auch die Geschwister werden in Mitleidenschaft gezogen. Ganz gleich, ob sie von dem Missbrauch wissen oder ob dieser ihnen verborgen bleibt auch sie sind Betroffene. Der Missbrauch hat mich einsam gemacht, denn ich habe nicht nur den Kontakt zu meiner Mutter, sondern ebenso den zu meinen Geschwistern verloren." Mädchen, wie auch Jungen, die sexuell missbraucht wurden, beschreiben oft die Einsamkeit ihrer Kindheit. Das gemeinsame Geheimnis von Opfer und Täter stört die Beziehung zwischen den Geschwistern. Die Geschwister erleben, wie sich das Verhalten des Opfers aus, für sie unerklärlichen Gründen, ändert, sie spüren die Sexualisierung der Beziehungen innerhalb der Familie und ahnen, dass etwas vor ihnen geheim gehalten wird. Häufig reagieren sie mit Eifersucht, wenn das betroffene Mädchen (Junge) zum Lieblingskind ernannt und z.B. mit Geschenken überhäuft wird. Verunsicherung und Aggressionen belasten in erheblichem Maße das Vertrauensverhältnis unter den Geschwistern.
Viele Geschwisterkinder fühlen sich schuldig, weil sie die Schwester oder den Bruder nicht beschützen können und selber von dem sexuellen Missbrauch verschont bleiben. Wieder andere entfernen sich aus Angst vor dem Täter vom Opfer und übernehmen die Sichtweise des Täters. Sie schreiben der Schwester oder dem Bruder die Schuld für das Verbrechen zu.
Es kommt in Familien häufig vor, dass mehrere Kinder gleichzeitig missbraucht werden, ohne das die Opfer untereinander von ihrem gemeinsamen Leid wissen. Nach David Finkelhor sind in 35% der Fälle von innerfamiliären Missbrauch an Mädchen ebenso Geschwisterkinder betroffen. Bei männlichen Opfern geht man von 60% aus. Die Erfahrungen von Zartbitter lassen vermuten, dass die Prozentzahlen in der Realität noch wesentlich höher liegen. Wenn ein Sohn der Familie missbraucht wird, sind meist ebenso die Schwester Opfer sexueller Gewalt. Viele Opfer gehen den ebenso betroffenen Geschwistern aus dem Weg; sie können es nicht ertragen, der Wahrheit ins Auge zu sehen und die eigenen Schmerzen zuzulassen. Oftmals schaffen es Geschwister erst nach Jahren, miteinander über den gemeinsamen sexuellen Missbrauch zu sprechen.
"Von meinem vierten Lebensjahr an wurde ich von meinem Vater sexuell missbraucht. Meiner Schwester, sie ist ein Jahr älter, passierte das Gleiche. Wir haben nie darüber gesprochen. Jetzt bin ich 15 Jahre alt. Zu meiner Schwester hatte ich nie einen Draht, obwohl wir schon lange im gleichen Heim leben. Ich fand sie einfach blöd. Vor 3 Woche habe ich sie mal darauf angesprochen. Es hat uns beiden gut getan, endlich einmal über alles zu sprechen. Jetzt können wir plötzlich auch über andere Sachen reden. Doch ich will jetzt in ein anders Heim, denn wenn ich meine Schwester nur sehe, muss ich immer an den ganzen Mist denken".
Viele Missbrauchsopfer machen die schlimme Erfahrung, dass sich die Geschwister von ihnen abwenden, sobald der Missbrauch aufgedeckt wird. Ich habe zwei Schwestern und zwei Brüder. Seitdem ich über den sexuellen Missbrauch durch meinen Vater spreche, ist mein Kontakt zu meinen beiden Brüdern gänzlich abgebrochen. Ich soll ihrer Meinung nach doch die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Ihnen kommen selbst Erinnerungen mit denen sie nicht umgehen können; bei uns wurden die Mädchen missbraucht und die Jungen geprügelt. Auch wollen die beiden nicht, dass Dritte von der Familientragödie erfahren und sie wohlmöglich darauf ansprechen. Die Beziehung zu meiner Schwester ist auch zerbrochen. Ich sollte mich ihrer Meinung nach mit Vater und Mutter versöhnen, zu ihr seien sie in der letzten Zeit sehr nett, er sei doch inzwischen ein alter Mann. Meine zweite Schwester schloss sich ebenso einer Wildwassergruppe an. Mit ihr verstehe ich mich gut. Bis auf die eine Schwester habe ich meine ganze Familie verloren.
Bisher wird in der Fachliteratur die Situation er Geschwister fast vergessen. Es ist eine Tatsche, dass das Miterleben von sexuellem Missbrauch in der Familie für Schwester und Bruder gleichermaßen eine Traumatisierung sein kann wie für das Opfer.
6. Symptome und Folgen des sexuellen Missbrauchs
Immer wieder kommt die Frage auf, ob es nicht ein Symptom, eine bestimmte Veränderung gibt, die anzeigen, dass ein Kind sexuell missbraucht wurde. Die Antwort lautet Nein. Ein eindeutiges Symptom gibt es leider nicht. Man kann einem Kind den Missbrauch nicht ansehen. Jedes Mädchen und jeder Junge entwickelt entsprechend seiner Persönlichkeit und Missbrauchssituation individuelle Reaktionen und Symptome. Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Schädigungen umso schwerwiegender sind,
je größer die verwandtschaftliche Nähe ist (besonders bei Autoritäts- und Vaterfigur)
je länger der Missbrauch andauert;
je jünger das Kind bei Beginn des Missbrauchs ist;
je größer der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer ist (und besonders bei Generationsunterschied);
je mehr Gewalt angedroht oder angewendet wird;
je vollständiger die Geheimhaltung ist;
je weniger schützende Vertrauensbeziehungen bestehen. Der Missbrauch ereignet sich in völligem Schweigen und in Dunkelheit. Die grundlegende Missachtung und die Verletzung seiner körperlichen Integrität konfrontieren das Kind immer mit Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Das Kind wird in seinem Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen geschädigt; der erfolgten oder nicht erfolgten Therapie.
Die Schädigungsproblematik wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. Es wurde jedoch nachgewiesen, dass je jünger ein Kind bei Missbrauchsbeginn ist, je häufiger und je länger es missbraucht wurde, desto langanhaltender sind die Folgen.
Ebenfalls steht fest: der sexuelle Missbrauch ist ein traumatisches und damit lebensbestimmendes Ereignis. Die Vielzahl der Symptome und Folgen werden folgendermaßen unterteilt:
6.1. Physische Symptome
Längst nicht jeder sexueller Missbrauch hinterlässt körperliche Verletzungen. Das britische Royal College of Physicians" geht in einer Expertise davon aus, dass sich bei zwei Dritteln der Kinder die mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch vorgestellt werden, keine körperliche Befunde erheben lassen (Jones/Royal College of Physicians 1996, Seite 81 in Bange/Deegener, Sexueller Missbrauch an Kindern Ausmaß, Hintergründe Folgen). Wenn keine physischen Anzeichen zu erkennen sind, darf das aber auf keinen Fall als Beweis dafür gelten, dass kein sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Es gibt eine Reihe physischer Verletzungen und Anzeichen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf sexuellen Missbrauch hinweisen.
Physische Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch können sein:
Verletzungen im Genital- und Analbereich (z.B. unerklärliches Bluten, Scheiden- und Analrisse, Fremdkörper in der Scheide oder im After).
Bisswunden oder Blutergüsse im Unterleib, an der Brust oder anderen erogenen Zonen.
Striemen oder blaue Flecken an der Innenfläche der Oberschenkel
Pilzinfektionen, Juckreiz, Hautrötungen, häufige Entzündungen im Genitalbereich.
Einen deutlichen Hinweischarakter haben bestimmte Geschlechtskrankheiten (z.B. Pilze, Herpes, Gonorrhoe, Aids).
Ein wichtiger Hinweis auf sexuellen Missbrauch kann die Schwangerschaft eines jugendlichen Mädchens sein. Verschiedene Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass über 50% der untersuchten schwangeren Jugendlichen sexuell missbraucht wurden.
Der Anteil der Fälle, die medizinisch nachweisbar sind, liegt derzeit in Deutschland bei etwa 1-2%. Striemenartige Spuren an der Innenseite der Oberschenkel, Bisswunden, Brandwunden von Zigaretten und Verletzungen im Genitalbereich, sowie Hämatome an den erogenen Zonen sind in der Regel immer eine direkte Folge von sexueller Gewaltanwendung und nicht allein ein Zeichen von körperlicher Misshandlung. Es sollte noch gesagt werden, dass vielen Ärzten bis heute noch die notwendige klinische Erfahrung fehlt. Das ist der Grund dafür, dass einige Mediziner die körperliche Verletzungen immer noch nicht mit sexuellem Missbrauch in Verbindung bringen.
In einer Medizinerausbildung sollte unbedingt die Diagnostik von sexuellem Missbrauch an Kindern gelehrt werden.
6.2 Psychosomatische Symptome
"Mein Zustand ist weiterhin unverändert schleicht. Ich funktioniere wie eine Marionette. Mir fällt alles ersetzlich schwer. Längst habe ich das Lachen verlernt. Die Depression ist in dieser Zeit mein ständiger Gast. Inzwischen kämpfe ich beinahe jeden Tag mit Kopfschmerzen und Übelkeit. Bin ich einmal schmerzfrei, habe ich stattdessen einen starken Druck im Gehirn. Jede Nacht wache ich in den frühen Morgenstunden mit gewaltigem Herzklopfen. Gepackt von großer innerer Unruhe, wälze ich mich im Bett hin und her, bis ich ganz zerschlagen aufstehe. Kraftlos, mutlos, mit der Angst den kommenden Tag nicht zu überstehen". Mädchen und Jungen die sexuell missbraucht wurden reagieren häufig mit psychosomatischen Beschwerden. Psychosomatische Beschwerden sind die nicht bewusst erlebten körperlich sichtbaren Anzeichen unverarbeiteter seelischer Kränkungen und Verletzungen. Sie bringen dadurch ihre leidvollen Erfahrungen zum Ausdruck.
Solche Symptome können sein:
Schlafstörungen
Die Nacht bleibt ein Problem. Ich habe Angst, mich in meinem dunklen, lichtlosen Zimmer aufzuhalten. Ich habe sogar Angst, nachts aus dem Fenster unseres Mietshauses zu schauen. Früher freute ich mich auf die Nacht. Vom 4. Stock aus sieht man die Sterne.... Ich möchte die Nacht. Jetzt fürchte ich mich vor der Nacht und vor allem... Ich werde mich in den Kleidern schlafen legen und ich werde auf der Hut sein. Lieber Gott, mach, dass er schlafen geht! Ich werde ganz fest denken: Geh schlafen und lass mich in Ruhe. Wenn ich das die ganze Zeit über denke, wird es gehen. Ich bin eingeschlafen, ohne es zu merken. Er ist da. Alle Nächte sind gleich. Ich habe ein ständiges Bedürfnis zu weinen, mich auszuschütten. Auch Lust zu beissen. Mein Kopfkissen bekommt es zu spüren. Die Schluchzer und die Bisse. Danach kommen der Schlaf und die Alpträume".
Ein- und Durchschlafstörungen können in der Regel bei solchen Kindern festgestellt werden, die abends oder nachts in ihrem Bett sexuell missbraucht wurden. Aus Angst vor neuen Übergriffen lauschen sie jede Nacht, ob ihr Peiniger kommt um sich wieder an ihnen zu vergreifen. Die Kinder haben Angst die Kontrolle zu verlieren, Angst ungeschützt zu sein. Außerdem fürchten sich die Kinder vor dem Schlafzimmer. Dies ist der Ort, an dem ihnen wehgetan wird.
Konzentrationsschwierigkeiten, Wahrnehmungsstörungen sowie innere Abwesenheit und Tagträume können in diesem Zusammenhang ebenfalls Folge sexueller Gewaltanwendung sein. Durch das Verbot des Täters, sich jemandem anzuvertrauen, zu erzählen was passiert ist, kann es zu Sprachstörungen kommen. Das Kind findet keine Worte für das Geschehene. Es weiß nicht was und wie es überhaupt etwas sagen soll. Es muss ständig aufpassen was es sagen will, was zu plötzlichem Stottern, Stammeln oder sogar zu völligen Sprachverweigerungen führen kann. Sehr jungen Kindern fehlen manchmal einfach die Worte, um das auszudrücken, was sie erlebten, wobei sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes kaum bewerten können, was ihnen geschah. Drohungen und Gewalt, Druck zur Geheimhaltung und die Ausnutzung der kindlichen Abhängigkeit führen dazu, dass die Opfer gleichzeitig reden und schweigen wollen, wobei dann Stottern als Kompromiss zwischen etwas sagen wollen sowie gleichzeitigem Verstummen gedeutet werden kann. Zum Teil tritt wohl auch Stammeln aufgrund von allgemeiner Aufregung und innerem Druck auf, oder dem Kind verschlägt es die Sprache, es redet kaum oder auch gar nicht mit bestimmten Personen seines Umfeldes.
Starke Kopfschmerzen und Übelkeit
Meine Migräne hat mich fest im Griff. Nach kurzem Schlaf erwache ich wieder mit starken Kopfschmerzen. Mir ist kotzübel. Ich kämpfe jetzt schon seit etwa 35 Stunden ununterbrochen mit starken Migräneattacken. Die Übelkeit ist unerträglich". Die Opfer können, wollen, dürfen nicht wahrnehmen was passiert ist.
Die Reaktion auf unangenehme und zu enge körperliche Nähe können Hautkrankheiten, Allergien und Ekzeme sein. Somit wird ihr Körper unansehnlich und sie fühlen sich somit vor dem Täter geschützt. Die Haut ist die äußere Grenze, die verletzt würde. Komm mir nicht zu.
Vernachlässigung der Hygiene und des Aussehens
Auch auf dem Weg über mangelnde Hygiene sowie eines abstoßenden Äußeren versuchen die Opfer auf Männer nicht attraktiv zu wirken bzw. die Menschen überhaupt auf Distanz zu halten. Manche kleiden sich wie eine graue Maus, um unscheinbar zu werden. Dass sich die Kinder nicht mehr waschen, kann auch daran liegen, dass der Missbrauch immer oder oft im Badezimmer erfolgte und so dieser Ort besonders gemieden wird. Im Übrigen wählen wohl viele Täter ganz bewusst Ort, von denen sie meinen, dass die gemeinsame Anwesenheit mit dem Kind keinen besonderen Verdacht erregt. Familienmitglieder zum Beispiel begegnen sich ja oft im Bad; Mütter finden es erst einmal ganz natürlich und begrüßenswert, wenn auch der Vater mit seinem Kind in der Badewanne planscht oder jeden Abend zu ihm ins Schlafzimmer geht und ihm noch etwas vorliest oder einen Gute-Nacht-Kuss gibt. Die mangelnde Körperpflege eines Opfers kann zusätzlich auch daran liegen, dass der Körper als Mitschuldiger abgelehnt bis gehasst wird, er ist entwürdigt und entweiht, schmutzig und nicht liebenswert. Im Rahmen einer Psychotherapie dauert es dann oft sehr lange, bis missbrauchte Jugendliche ihren Körper wieder annehmen und verwöhnen können, wieder in gesundem Ausmaß mit ihrem Äußeren eine positive Ausstrahlung aufweisen bzw. Aufmerksamkeit für sich erregen dürfen.
Verspanntheit im Becken-Bereich / Menstruationsbeschwerden
Das deutet die Abwehr im Becken. Die Mädchen haben Bauchschmerzen und zeigen dabei auf ihren Unterleib. Solche Beschwerden ohne erkennbare organische Ursachen können als körperlicher Ausdruck des emotionalen Stress, der inneren Konflikte angesehen werden (mir bereitet etwas Kopfschmerzen, liegt was auf dem Magen). Dementsprechend kann es auch zur Verspanntheit bis hin zu Lähmungserscheinungen aus Angst und vor Schmerzen kommen. Auffallend sind auch Lähmungen und Spannungen in Schultern, Nacken, Rücken oder Oberschenkeln. Während der Übergriffe haben sich die Kinder oft völlig verkrampft. Aus Angst sind sie völlig gelähmt.
Ess-Störungen, z.B. Mager-Fett- und Fresssucht
"Ich habe ihm häufiger einen blasen müssen, dann bin ich immer gleich raus, auf die Toilette, und habe mich übergeben. Zu der Zeit hatte ich auch schon immer weniger gegessen, keine Appetit. Und dann habe ich später immer auch nach den Fressanfällen gebrochen, das kam dann später ganz von selbst".
Essstörungen nach sexuellem Missbrauch können u.a. folgendermaßen erklärt werden:
jugendliche Mädchen weichen der Entwicklung zur Frau aus, sie versuchen, ihre körperliche Entwicklung in der Pubertät abzustoppen. Da der Körper mit als Ursache des Missbrauchs angesehen wird, versuchen die Opfer, unattraktiv und unansehnlich zu werden, also zu dick oder zu dünn. Manche Jugendliche auch ohne Essstörungen versuchen auch durch sehr weite, verhüllende Kleidung ihren Körper vor Blicken zu verbergen. Bei Fresssucht dient das viele Essen zum Teil auch dem Ausfüllen eines Gefühls der inneren Leere, wobei aber eigentlich emotionale Nahrung gesucht wird.
Gelegentliches übermäßiges Essen wird auch zur Beruhigung gesucht, oder man möchte sich einfach auch mal etwas Gutes gönnen wobei dann zu vieles Essen auch zum Kummerspeck wird. Das angegessene Schutzpolster bzw. der sehr kräftig gewordene Körper wirkt gelegentlich wie eine Panzerung vor Bedrohung. Bei Magersüchtigen scheint das zwanghaft gesuchte Abnehmen auch Ausdruck dafür zu sein, wenigstens in einem Bereich des Lebens die Kontrolle behalten zu können.
Erstickungsanfälle, Asthma, übersteigerte Atmung
Sie steht auf dem Stationsflur, schreit laut und voller Angst, wobei sie mit dem Finger von sich weg zeigt und angibt ihren Missbraucher zu sehen (es steht dort aber keine Person). Sie steigert sich immer weiter in ihre Angst, atmet immer schneller und flacher, wird schwindelig und wird auf ihr Bett gebracht um sich dort zu beruhigen". Die seelischen Konflikte können vom Kind nicht ertragen werden, die seelische Erregung schlägt sich im Körperlichen nieder. Manche Jugendliche beginnen bei großer Anspannung und Aufregung zu Hyperventilieren, d.h. ihr Atmung wird immer schneller und schnappender, es kommt zu einer mangelnden Sauerstoffversorgung mit der Folge von Schwindelgefühlen, manchmal auch Ohnmachtsanfällen.
Die Erstickungsängste eines Kindes können das Erleben der oralen Vergewaltigung widerspiegeln, aber auch dann entstehen, wenn der Täter dem Kind während des Missbrauchs den Mund zugehalten hatte, damit es nicht schreien kann. Es kann auch das Gefühl auftreten, einen Kloß im Hals zu haben und nicht mehr richtig schlucken zu können.
Was mit den Worten von Natascha ganz deutlich wird, ist die Abspaltung von den eigenen Gefühlen, vom eigenen Körper.
"Ich hab´ gemerkt, dass ich reagiert hab und zwar so´ne Versteinerung nach Innen, Augen zu und durch. Nichts merken, nichts ankommen lassen, einfach nur funktionieren. Du tust jetzt was dein Vater sagt, aber weiter nichts, du machst nichts dagegen, und du merkst nichts, überhaupt nichts. Ich hab mir selber verboten zu merken, dass mir die Situation grauenhaft war, war mir peinlich, ich hab´ mich geschämt, ich hätt´ mich im nächsten Mauseloch verkriechen können."
Eine Multiple Persönlichkeit entwickeln manche Kinder als Folge schwerer physischer und psychischer und sexueller Misshandlung. Die erlebte Verachtung des eigenen Ichs wird zur Selbstverachtung. Mit 13 Jahren begann sie sich einen neuen Namen zu geben. Ich habe ja Katrin geheißen. Und diese Katrin, die diese ganz schreckliche... die hat das nicht überlebt. Die ist also wirklich damals gestorben. Und dann habe ich gemerkt, dass in mir etwas anders ist. Also eine andere Person, diese Eva... meine ganze Erinnerung, ich habe ja alles verdrängt. Alles war zu, weg".
Einnässen und Einkoten
Das Einnässen kann als Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung sowie nächtlichen Angst angesehen werden. Kleinkinder mit schon immer bestehenden familiären Belastungen waren oft noch nie trocken. Häufiger geschieht es wohl, dass Kinder, die schon sauber und trocken waren, aufgrund der Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch wieder anfangen Einzunässen.
Das Einkoten kann auch als Ausdruck verdrängter Aggression angesehen werden. Weiter kann das Einkoten auch als Versuch der Abwehr des sexuellen Missbrauchs (z.B. bei analer Vergewaltigung) angesehen werden.
Krank-sein
"Ich war der perfekte Hypochonder. Wir hatten so ein Medizinbuch, und ich habe mir die Krankheiten richtig aus dem Buch ausgesucht. Ich war ständig krank. Wenn ich krank war, hat sich meine Mutter auch um mich gekümmert. Da hab ich all das bekommen an Liebe und Zuneigung, was ich sonst nicht hatte."
6.3 Emotionale Reaktionen
Sexuelle Übergriffe stellen für Kinder eine starke emotionale Verwirrung da. Der sexuelle Missbrauch wird wohl von allen Betroffenen als demütigend erlebt. Sie denken, wem so etwas passiert, der kann nicht viel wert sein, sind verunsichert und fühlen sich schuldig für das, was ihnen angetan wurde. Die Kinder glauben, sie könnten auch sonst nichts bewirken, da sie auch den sexuellen Missbrauch nicht verhindern konnten.
Misstrauen an der eigenen Wahrnehmung
"Vielleicht machen das alle Väter mit ihren Töchtern, vielleicht ist das normal, und ich sehe das nicht richtig".
"Das, sehen Sie, ist die größte Gemeinheit. Sie werden vergewaltigt, und man möchte Ihnen einreden, dass Sie es mögen, weil Sie aus Angst nichts gesagt haben. Das ist für ihn ein geflügeltes Wort geworden. Wenn ich nein sagte, selbst zaghaft oder weinend oder indem ich versuchte, ihm zu entrinne, wiederholte er die ganze Zeit: Du hast es gemocht, kleines verdorbenes Luder". Das Resultat davon ist: Man weiß nicht mehr, was daran stimmt. Weil in dem betreffenden Moment alles zusammenkommt: Schuldgefühl, Angst, Scham. Heute weiß ich wohl, dass das nicht richtig ist. Ich weiß auch: Ich wusste immer, dass ich es nicht möchte. Aber er redete es mir ein, und ich wurde von ihm in die Enge getrieben. Zwischen Schlägen und Schweinereien brachte er es hervor, und es war unmöglich, sich sauber zu fühlen. Unmöglich. Dreckig, immer dreckig, dreckig, dreckig."
Missbraucher achten darauf, von der Umwelt nicht als Täter erkannt zu werden. Durch den Einbau der Missbrauchssituation in den Alltag des Opfers hinterlässt der Täter keine sichtbaren Spuren. Dadurch zweifelt das Opfer, ob der Missbrauch tatsächlich stattgefunden hat. Der Missbraucher zeigt sich seinem Opfer mit zwei Gesichtern. Das Kind weiß nie mit wem habe ich es gerade zu tun. Ist es nun der liebe Vater, Stiefvater etc. oder der bedrohlicher Missbraucher?
Der für den sexuellen Missbrauch typische Zweifel an der eigenen Wahrnehmung ergänzt sich mit den öffentlichen, allgemeinen Zweifeln an den Aussagen des Kindes. Berichtet ein Mädchen oder ein Junge über die Erlebnisse, so wird es häufig vom Täter und der Umwelt für verrückt erklärt.
Ein großer Teil der Kinder entwickelt infolge des sexuellen Missbrauchs massive Angstgefühle. Die Kinder haben zum einen die sehr realistische Angst erneut missbraucht zu werden. Sie fürchten sich davor, dass der Täter seine Drohungen wahr macht und sie schlägt oder gar tötet, wenn sie etwas verraten. Auch Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie von den Eltern und Geschwistern getrennt werden, wenn der sexuelle Missbrauch entdeckt wird. Viele Mädchen und Jungen zeigen plötzlich eine enorme Angst vor Menschen, die sie durch ihre Stimme, ihren Tonfall etc. an den Missbraucher erinnern. Es kommt sogar zu panikartigen Reaktionen in bestimmten Situationen oder Räumen, mit denen sie die Gewalttat in Verbindung bringen. So kann es ein wichtiger Hinweis auf sexuellen Missbrauch sein, wenn ein Kind plötzlich Angst hat, mit einer bestimmten Person allein im Haus zu bleiben.
"Jetzt heute, als erwachsene Frau ist mir erst bewusst geworden, dass meine ganze Kindheit bestimmt war von dieser Angst, von dieser Hilflosigkeit, ich habe mich immer ohnmächtig gefühlt... so wie ich als Kind nie ne Sekunde sicher sein konnte, dass nicht gleich irgendein Übergriff passiert, egal ob da ein Zeitraum zwischen lag von einem Tag oder vielleicht auch von zwei Wochen, aber dazwischen war immer und immer die Angst, es könnte jeden Augenblick soweit sein."
Scham- und Schuldgefühle
Scham- und Schuldgefühle entstanden und führten zur Selbstabwertung! "Irgendwie bin ich doch so´n schlechter Mensch! Auch Erregung empfinde ich immer als etwas ganz negatives... weil ich dann immer noch das Gefühl habe, dadurch meinen Vater bestärkt zu haben indem, was er tut und dadurch so seine Schandtat unterstützt zu haben und jetzt dann immer noch so eine Schandfrau bin".
Die Opfer sehen sich selbst als schlecht und schuldig an. Sie verlagern die Verantwortung für die Tat in sich selbst und können es nicht begreifen, warum ihnen so etwas schreckliches angetan wird. Auf die Frage wofür fühlst du dich dann als missbrauchtes Kind schuldig? antwortete Bärbel M., die in ihrer frühen Kindheit Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ist:
"Schuldig fühle ich mich dafür, etwas Schlechtes über meinen Vater zu denken, Probleme zu machen, zu sehr zu gefallen, zu lebendig zu sein, zu laut, zu frech, zu anstrengend für meine Eltern ein unanständiges Mädchen zu sein".
Regressives Verhalten
Vor allem kleinere Kinder zeigen in folge eines sexuellen Missbrauchs regressiver Verhaltensweisen. Sie möchten plötzlich wieder ständig auf den Arm genommen werden, sie krabbeln immer wieder auf den Schoß der Mutter. Weichen ihrer Mutter nicht mehr von der Seite und klammern sich regelrecht an ihr Bein. Es kommt auch häufig vor, dass die Kinder plötzlich wieder am Daumen lutschen, wieder nach dem Sch****er, Flasche oder Kuscheltieren verlangen, obwohl sie längst entwöhnt waren. Außerdem entwickelt das Kind seine Sprachfähigkeit nicht altersgemäß und fällt in die Babysprache zurück. Durch diese Rückfälle in frühkindliche Verhaltensweisen wünscht sich das Kind wieder wie früher als Baby, zu jederzeit geschützt und umhegt zu werden.
Vertrauensverlust
Die meisten Kinder vertrauen dem Täter, bevor sie von ihm sexuell missbraucht werden. Ein Mädchen ist vielleicht in den ersten Lebensjahren immer zu ihrem Papi gelaufen, wenn sie sich wehgetan hat oder Angst vor irgendetwas hatte. Sie wurde dann von ihm in den Arm genommen und getröstet. Plötzlich macht der gleiche liebe Papi Dinge mit ihr, die ihr unheimlich sind und ihr weh tun. Ihr Vertrauen in enge, nahe Beziehungen wird zutiefst erschüttert. Die verständliche Reaktion ist, sie darf nicht mehr zu viel vertrauen, denn das tut dann irgendwann weh. Jetzt wird sie vorsichtiger. Sehr viele Kinder sind deshalb nach einem sexuellen Missbrauch sehr misstrauisch gegenüber engen Beziehungen. Sie entwickeln eine Schutzfunktion vor weiterem sexuellen Missbrauch und erneutem Vertrauensmissbrauch. Wie tief sich ein solcher Vertrauensverlust einprägt und das Verhalten bis ins Erwachsenenleben hinein beeinflusst zeigen die Worte einer sexuell missbrauchten Frau.
"Nichts hat mir als Erwachsenen mehr geschadet als die Zerstörung meines Vertrauen in der Kindheit. Ich muss hart daran arbeiten, mir so etwas wie ein Sicherheitsnetz zu schaffen etwas, woran andere, denen es besser gegangen ist, nie einen Gedanken zu verschwenden brauchen. Bis ich anderen Menschen vertrauen konnte, hat es Jahre gedauert, Jahre!"
Dieses Erleben scheint typisch für einen großen Teil der Opfer zu sein. Immer wieder berichten sie große Angst vor Nähe und engen Beziehungen zu haben. Dies ist nicht verwunderlich, da die meisten von ihnen durch einen vertrauten Menschen sexuell missbraucht wurden.
Psychische Reaktionen auf sexuelle Gewalterlebnisse zeigen sich häufig in zwanghaftem Verhalten. Das Kind ist fast ausschließlich beschäftigt mit Reinlichkeits- und Ordnungsritualen. Es duscht oder wäscht sich so häufig, bis die Haut rot und rissig ist, um den inneren und äußeren Schmutz los zu werden. Das Kind versucht vergeblich sich von der Missbrauchsverschmutzung und von seinem Ekel zu reinigen. Andererseits will es über die Vermeidung jeglicher äußerlichen Verunreinigungen symbolisch der Missbrauchsverschmutzung entkommen. Ich stürze auf die Toilette. Ich wasche mich, ich schrubbe, ich schrubbe, ich schrubbe, die Gerüche herunter, ich schrubbe, bis ich nicht mehr fühle, wie seine Hände mich berühren, sein Mund mich küsst. Ich schrubbe wie eine Furie".
Depressive Reaktionen
Depressive Reaktionen von Kindern auf einen sexuellen Missbrauch werden von vielen Experten als symptomatisch betrachtet. Es ist nur allzu verständlich, wenn die Kinder traurig darüber sind, dass ein ihnen vertrauter Mensch ihnen wehgetan hat, sie benutzt hat. Sie sind enttäuscht, dass sie sich selbst nicht aus dieser schlimmen Situation befreien können und ihnen all die anderen Menschen nicht helfen. Die Kinder zeigen keine Gefühle mehr, kein Lachen, kein Weinen, nur Leere eine scheinbare Gefühlslosigkeit. Bei jahrelangem Missbrauch trauern sie um ihre verlorene Kindheit und Jugend.
"Depressionen, die kenne ich! Meine Bewegungen sind schwerfällig, ich bin oft weinerlich und fühle mich nicht dazugehörig. Es ist, als ob ich neben mir stehe. Die Tage erschlagen mich, alles scheint so sinnlos. Lieber Gott, zieh doch endlich den Stecker aus der Dose, ich kann ganz bestimmt nicht weiter. Plötzlich habe ich Angst, dass die Depressionen nicht heilbar sind. Ich kann nicht immer in diesem qualvollen Zustand leben. Ich schleppe mich von einem Tag zum anderen, liege oft auf dem Sofa. Ich vegetiere stumpfsinnig vor mich hin, unterbrochen von den unvermeidlichen Migräneattacken. Manchmal weiß ich morgens nicht, wie ich den Tag überstehen soll... weiß manchmal nicht, wo ich die Kraft hernehme. Ich muss dann gegen die Versuchung ankämpfen, mit dem Auto einfach mit Vollgas gegen einen Baum zu fahren. Die Verzweiflung wächst, wird riesengroß."
Scham- und Schuldgefühle, besonders Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und das Gefühl der Ohnmacht schwächen das Selbstbewusstsein von Mädchen und Jungen. Ich fühle mich, als hätte ich eine schmierige, feuchte, klebrige Masse in mir drin. Ich wusste, alles in mir war böse und etwas davon blieb an allem hängen, mit denen ich in Kontakt kam. Also lies ich keinen Menschen wirklich an mich ran. Ich hasse mich. Ich verdiene es nicht. Im Grunde bestehe ich nur aus Stress. Die normalen Vergnügen die andere Leute genießen Zusammensein mit anderen, Entspannen, Spaß sind mir immer unerreichbar vorgekommen. Ich glaub nicht, dass mich jemals jemand lieben wird. Ich weiß, eigentlich bin ich dazu bestimmt allein zu sein".
Die Opfer zeigen oft niedriges Selbstwertgefühl aufgrund der entstandenen Scham -, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Im Zusammenhang mit den anderen Belastungen und Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs führt dies nicht selten dazu, dass sie sich in vielen Bereichen nichts zutrauen.
6.4 Autoaggressives Verhalten
Die Aggressionen, die sich aufgrund der Missbrauchssituation in den Mädchen und Jungen angestaut haben, richten sich nun gegen sich selbst. Aufgrund der Scham- Schuldgefühle, die die Opfer empfinden, wollen sie sich dafür bestrafen. Sie denken, sie hätten sich dem Missbraucher nicht genügend zur Wehr gesetzt. Mädchen neigen sehr oft zu autoaggressivem Verhalten. Dadurch versuchen sie ihren Körper (in ihren Augen die Ursache für den sexuellen Missbrauch) zu zerstören.
Das Opfer bestraft sich oder möchte durch den zugefügten Schmerz spüren, dass es überhaupt noch lebt. Wieder andere fügen sich körperliche Schmerzen zu, um den seelischen Schmerz zu verdecken.
Suizidgedanken -versuche
"Ich habe mehrere Versuche hinter mir. Mit 7 war es das erste Mal. Da habe ich damals gedacht, wenn ich unter der Bettdecke einschlafe, dann ersticke ich, und wach morgens nicht mehr auf. Und ich habe es dann irgendwann einmal tatsächlich geschafft, unter der Bettdecke einzuschlafen, bin morgens aber trotzdem aufgewacht und habe festgestellt, dass nichts passiert ist. Danach habe ich mehrmals mit dem Gedanken gespielt, war schon kurz davor."
Selbstmordgedanken und versuche sind der dramatischste Schrei nach Hilfe. Sie spiegeln die langwährenden Gefühle der Hilf-, Hoffnungs- und Ausweglosigkeit wieder und erscheinen als einzige Möglichkeit der Flucht aus der Missbrauchssituation. Weiter kommt in ihnen wegen der vermeidlichen Schuld auch eine Tendenz zur Selbstbestrafung zum Ausdruck, und in Verbindung mit dem entstandenen negativen Selbstbild kann sich der Gedanke verfestigen, nicht lebenswert zu sein. Selbstmordversuche erfolgen auch, wenn Kinder vom sexuellen Missbrauch erzählt haben und ihnen niemand glaubt. Sie nur im Sinne eines letztlich nicht ernstgemeinten Appells zu verstehen, ist häufig eine gefährliche Verharmlosung. Unterschätzt wird dann auch das Ausmaß der Bilanz, die von diesen Kindern oder Jugendlichen gezogen wird und in Gedanken mündet, dass der Tod eine Erlösung von den Gefühlen der allgemeinen Sinnlosigkeit des eigenen Lebens und Alltags sei.
Bewusste Selbstverletzungen
"Mein Körper habe ich radikal, also wirklich radikal versucht zu zerstören, weil er attraktiv war und ich das Gefühl hatte, er nur Werkzeug ist.... Der einzige Weg mal das Gefühl zu haben, ich bin ich, ist dann diese Selbstzerstörung, weil ich weiß, dass das niemandem gefällt und mich damit keiner benutzen kann. Ich wollte mich verletzen, mir selbst Schmerz zufügen, und normalerweise tu ich das indem ich mich mit einem Messer schneide. Ich hab das Gefühl, der Schmerz in mir drin ist so schlimm, dass er herauskommt, wenn ich mich schneide. Oft habe ich das Bedürfnis danach, wenn ich mich an etwas erinnere. Wenn ich mich schneide, wissen die anderen, welche Schmerzen ich leide. Sonst merken sie es nicht, vor allem, weil ich versuche, keine Gefühle zu zeigen".
Manche Missbrauchsopfer verletzen sich selbst. Diese Autoaggressionen erfolgen in Form von Nägelkauen, Haare ausreißen, Schnittverletzungen mit Messern, Glasscherben und Rasierklingen an den Armen und Beinen, Ausdrücken der Zigarette auf dem Körper, sich mit den Fingernägeln Striemen auf der Haut beibringen. Eine Jugendliche zog sich auf diese Weise buchstäblich die Haut mit ihren Fingernägeln vom Leibe. Die Schuldgefühle werden dabei gegen sich selbst und den eigenen Körper gerichtet, wobei weiter der Hass und die Wut gegenüber dem Täter nicht auszuleben gewagt wird, sondern gegen sich gerichtet wird. Manche Opfer geben an, durch die Selbstverletzungen Gefühle der innerer Anspannung und Leere abbauen zu können. Natürlich sind diese Selbstverletzungen auch als Hilfeschrei zu verstehen.
Suchtverhalten
"Ich fing mit Drogen und Alkohol an, um mich in die richtige Stimmung zu bringen. Ich war noch auf der High-School. Damals erinnerte ich mich nicht mehr an den Inzest, ich wusste nur, dass ich mich einsam, anders als die anderen und überhaupt ziemlich mies fühlte. Ich entdeckte, dass ich nach ein paar Drinks lockerer wurde. Sie halfen mir bei Geselligkeiten und ließen mich vergessen, wie lachhaft mein Leben war. Aber das wurde bald anders. Nun nahm ich die Droge nicht mehr um meine Stimmungen zu steuern, sondern die Drogen nahmen mich in die Zange und ich konnte sie nicht länger kontrollieren."
Erfahrungen aus Drogenberatungsstellen belegen, dass für viele Alkohol- und Drogenabhängige der sexuelle Missbrauch ein Grund zum Einstieg gewesen ist. Der Alkohol- und Drogenkonsum kann sich von einem vorübergehenden Überlebensmechanismus zur beeinträchtigenden Abhängigkeit entwickeln.
Alkohol und Drogen dienen vielfach der Selbstbetäubung, um die Gefühle von Scham, Einsamkeit, Ekel, Angst und Schmerzen vorübergehend verblassen zu lassen. Die Suchtmittel führen zu einem Gefühl der momentanen Entlastung und Leichtigkeit, die innere Anspannung und Unruhe lässt nach, die quälenden Gefühle und Erinnerungen werden nicht mehr so bewusst erlebt.
6.5 Sozialverhalten
Kinder und Jugendliche zeigen nach einem sexuellen Missbrauch überdurchschnittlich oft Verhaltensauffälligkeiten. Sie wurden benutzt und in ihrem Vertrauen betrogen. Diese Gefühle äußern sich in ihrem sozialen Verhalten.
Plötzlicher Leistungsabfall- oder anstieg
Negative Veränderungen in den Schulleistungen, Versagen in der Schule, aber auch Leistungsverweigerung und Konzentrationsschwierigkeiten können auf sexuellen Missbrauch hinweisen. Es war im auch egal, dass ich oft kaum schlafen konnte in der Nacht, dass das die ganze Nacht ging, dass ich auch in die Schule hätte müssen und alles.... Das ging wirklich oft, er hat mich dann immer wieder aufgeweckt".
Es ist unmöglich für die Missbrauchsopfer sich in der Schule zu konzentrieren, sie sind müde und mit ihren Gedanken oft beim Missbrauch. Für gute Schulleistungen haben sie keine Kraft mehr, sie haben wichtigere Sorgen als Schule. Es kann allerdings auch vorkommen, dass sexuell missbrauchte Kinder mit extremer Leistungsbereitschaft auf den Missbrauch reagieren. Mit guten Leistungen heben sie sich von den anderen ab, sie brauchen keine Angst zu haben entdeckt zu werden. Zudem wird die Schule zu einem Ort, an dem sie keine Angst vor sexueller Gewalt haben müssen. Hier können sie sich entfalten und bekommen durch ihre Erfolge Anerkennung. Hinter dieser verzweifelten Leistungsbereitschaft kann ebenfalls der Wunsch nach Unabhängigkeit stecken. Möglichst schnell Geld verdienen und aus dem verhassten Elternhaus entfliehen.
Distanzloses Verhalten
Bei sexuell missbrauchten Mädchen und Jungen wurden ihre eigenen persönlichen Grenzen vom Peiniger überschritten. Sie konnten daher nicht lernen ihre eigenen Grenzen und die Grenzen anderer zu erkennen und zu respektieren. Sie verhalten sich distanzlos.
Verschlossenheit, Einzelgängertum
Das Kind zieht sich aus allen seinen Freundschaften zurück, es vermeidet gemeinsame Unternehmungen, es isoliert sich selbst. Das Kind fühlt sich anders und ausgestoßen. Sie empfinden sich weiter als schlecht und sündig, wobei ein sehr negatives Selbstbild entsteht. Die Selbstunsicherheit breitet sich immer mehr aus, ein Anlächeln wird umgedeutet als auslachen, die Kinder fühlen sich im Vergleich mit Gleichaltrigen viel weniger hübsch, klug, usw. hinzu tritt die Angst, dass die Suche nach Nähe und Geborgenheit zu erneutem sexuellem Missbrauch führt, wobei weiter quälende Erinnerungen an den Missbrauch umso lebendiger werden können, wenn Freunde auch körperliche Nähe wünschen. Außerdem wird Nähe auch vermieden aus Furcht, sich zu verplappern, und Abstand zu anderen Menschen verschafft auch das Gefühl, das nicht durchschaut und erkannt werden kann, wie schlecht, schmutzig und lächerlich man sei. Freundschaften können bedrohlich sein, weil es in Gefahr kommt, das Geheimnis zu verraten, wovor es fürchterliche Angst hat. Die Missbraucher sorgen sogar für die Isolation des Kindes, damit das Geheimnis gewahrt wird.
Das Kind fängt an, sehr auffällig zu lügen oder zu stehlen. Der Täter spricht seine Missbrauchsopfer seine eigenen, wahren Gefühle aus, er wechselt die Lüge in die Wahrheit, somit zwingt er das Kind ständig zur Lüge, er stiehlt sich mit Gewalt Gefühle des Kindes und verletzt dessen Vertrauen. Das auffällige Lügen oder Stehlen drückt die Not des Kindes aus.
Weglaufen, Streunen
scheint bei Mädchen und Jungen ein wichtiger Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch zu sein. Das Weglaufen für Stunden, Tage oder auch viele Monate ist leicht als Flucht vor der allgemeinen unerträglich gewordenen familiären Beziehung sowie der Missbrauchssituation zu begreifen. Flucht vor etwas ist aber auch immer verbunden mit einer Suche nach einer besseren Zukunft, nach Geborgenheit und nach vertrauensvollen Menschen. Dabei besteht die Gefahr, in neuen Abhängigkeiten wiederum ausgenutzt zu werden. Eine Form des Weglaufens besteht darin, dass die missbrauchten Kinder und Jugendlichen kaum mehr zu Hause sind, sie verbringen möglichst viel Zeit unter Freunden oder irren in der Stadt herum, haben scheinbar immer etwas außerhalb zu tun, sind morgens die ersten auf dem Schulhof und bummeln noch lange nach Schulschluss herum, bevor sie sich nach Hause wagen. Ich weiß noch ganz genau, dass ich, als ich klein war, von zu Hause weglaufen wollte und ich mir auch schon ein Versteck ausgesucht hatte".
Aggressives und delinquentes Verhalten
Die im Elternhaus und sozialen Umfeld häufig allgemein herrschenden aggressiven Beziehungen und gewaltförmigen Konfliktlösungen werden durch das Lernen am Modell übernommen. Können die entstandenen Gefühle von Wut, Hass und Enttäuschung gegenüber dem Täter oder auch der Mutter nicht ausgelebt werden, so werden sie auf andere Menschen verschoben. Häufig müssen dann jüngere, schwächere Kinder unter diesen Aggressionen leiden, oder es werden die Männer oder die Erwachsenen unisono verachtet und bestraft. Bei Kindern und Jugendlichen, welche im Elternhaus körperlicher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, besteht eine erhöhte Gefahr, dass sie ebenfalls Kinder sexuell missbrauchen oder Aggressionen an ihnen ausleben. Als Ursache wird dabei auch die Identifikation mit dem Aggressor angenommen, d.h. Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit als Opfer werden überwunden, indem nun die machtvolle Täterrolle eingenommen wird.
6.6 Sexualverhalten
Eine weitere Auswirkung sexueller Gewaltanwendung kann bei Mädchen und Jungen altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten sein. Die Entwicklung der kindlichen Sexualität ist massiv gestört und unterbrochen worden. Der Täter hat das Vertrauen des Kindes missbraucht, hat es beschmutzt und sich schamlos verhalten. Sexuell missbrauchte Mädchen und Jungen fallen also häufig durch ein altersunangemessenes Sexualverhalten auf. Dies zeigt sich unter Umständen durch öffentliches Herzeigen der eigenen Geschlechtsteile und häufigem, intensivem Masturbieren. Sie drücken sich mit auffälligem, nicht altersgemäßen sexuellen Handlungen im Spiel oder in Erzählung aus ritualisierte Doktorspiele bei gleichaltrigen Kindern, wobei erlebte Zwangshandlungen nachgespielt werden. Es kann bei Mädchen des häufigeren vorkommen, dass es in automatischer Reflexbewegung auf alle Viere hinunter geht, ihren Po in die Luft streckt, wenn eine Erziehungsperson laut wird oder schimpft. Mädchen reagieren auch des öfteren wie elektrisiert oder verhalten sich Männern gegenüber völlig distanzlos. Außerdem wurde bei Mädchen beobachtet, dass sie in sexuell aufreizenden Posen auf Erziehungspersonen zugehen, ihnen Küsse geben, ihre Geschlechtsteile am Knie reiben. Durch den Missbrauch hat das Kind früh gelernt, dass es so Aufmerksamkeit und Anerkennung erhält. Das Kind weist mit den genannten Verhaltensauffälligkeiten auf den Vertrauensbruch, die Beschmutzung, die Schamlosigkeit und auf die viel zu frühe gewalttätige Sexualisierung hin und bringt sie durch diese Signale an die Öffentlichkeit. Verstärkt wird ihr Verhalten dadurch, wenn ihre Peiniger ihnen noch erzählen, dass das, was sie hier miteinander machen, normal und richtig sei (vgl. Frei, K., 1993, S. 42). Es wird auch immer wieder vom symbolischen Ausdruck des Missbrauchsgeschehens berichtet. Bei einem Mädchen im Vorschulalter heilte trotz aller ärztlicher Bemühungen lange Monate der entzündete Mittelfinger nicht. Später stellte sich heraus, dass ihr Vater immer wieder mit seinem Mittelfinger in ihrer Scheide manipuliert hatte.
Das Kind wiederholt immer wieder Fragen zu sexuellen Themen, auch wenn ihm längst geantwortet wurde. Des häufigeren fängt das Kind jedes Mal an zu stottern, wenn es über die eigenen Gefühle reden will, es sagt, dass es nicht mehr leben will und erzählt, dass in der Nacht immer ein dunkler Geist kommt, der ihm die Bettdecke weg nimmt und ihm weh tut. Sexuell missbrauchte Kinder dürfen nicht über den Missbrauch sprechen, also senden sie so Hinweise an ihre Umwelt. Das Kind erzählt, dass sein Papa im Kinderzimmer schläft und nachts ins Bett macht. Die Kinder benutzen dabei entweder ihre Kindersprache oder die Sprache, die sie vom Täter gelernt haben.
Doch nicht nur eine exzessive Beschäftigung mit der Sexualität wird bei Missbrauchsopfern beobachtet. Sie haben Sexualität als gewalttätig und schmerzvoll erlebt. Dadurch entwickeln sie oft negative Gefühle mit Sexualität, was dazu führen kann, dass die Kinder sexuelle Aktivitäten als bedrohlich erleben. Sie haben Angst davor und vermeiden sie deshalb. Wie folgenschwer die in der Stille des Schlafzimmers sich offenbarenden Ängste vor der Sexualität für die Missbrauchsopfer sind, wird durch folgende Aussagen von Betroffenen verdeutlicht:
"Ich erinnere mich, als ich älter wurde und die Mädchen, mit denen ich aufwuchs, mit Küssen und all diesen Sachen anfingen für sie war das neu. Und ich kannte schon so viel. Ich glaube, ich fühlte mich schmutzig. Sexualität wurde für mich zu etwas Schmutzigem."
"Ich bin 53 und habe nie geheiratet. Ich habe enge Freundinnen und Freunde, aber sobald jemand was von mir will, krieg ich heftige Angst. Ich hab in meinem Leben zweimal sexuellen Kontakt gehabt, wenn ich meinen Onkel nicht zähle. Ich fand mich widerlich und schmutzig und konnte gar nicht abwarten, bis es vorbei war. Ich wollte ihn nie wieder sehen. Ich bin richtig wütend: Ich bin 53 Jahre alt und weiß nicht mal, wie es ist, wenn jemand mit mir intim ist, wie schön es vielleicht sein kann, mit jemandem zu schlafen."
"Soweit ich weiß, empfinde ich in sexueller Hinsicht nichts."
Prostitution
"Als Prostituierte wurde ich auch wieder zum Opfer. Zu der Zeit hab ich das gemacht, weil ich keine andere Möglichkeit sah, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und meine Kinder zu ernähren. Ich war zu jung, um emanzipiert zu sein. Vom Sozialamt bekam ich nichts. Meine Kinder brauchten Windeln und was zu Essen, und Prostitution war die einzige Möglichkeit, die ich sah, da dranzukommen."
Ein Kind, dass für die sexuellen Kontakte mit einem Erwachsenen materielle Gegenstände bekommt, lernt, Sexualität funktional einzusetzen. So kann eine Entfremdung von der eigenen, vielleicht nie erfahrenen Sexualität stattfinden. Die Übernahme von Normen und Werten können richtungsweisend sein. Zudem laufen viele der sexuell missbrauchten Kinder von zu Hause weg. Einmal auf der Straße, stellt sich dann sehr schnell die Frage: Wie soll sich überleben? Wovon soll ich leben? Prostitution bietet sich für einen Teil dieser Kinder als die einzige Möglichkeit an, das nötige Geld zu beschaffen. Ein weiteres Motiv, sich zu prostituieren, ist nach Aussage von Prostituierten, dass sie in ihrer Arbeit einen Weg sehen, eine Situation zu beherrschen, die sie als Kinder nicht beherrschen konnten. Es ist bezeichnend, dass viele von ihnen sagten, sie hätten zum ersten Mal ein Gefühl von Macht empfunden, als sie ihren ersten Freier hatten".
Mimi Silbert und Ayala Pines (1981) befragten 200 jugendliche und erwachsene Prostituierte in der San Francisco Bay Area. 60% von ihnen hatten sexuellen Kindesmissbrauch erlebt. Die meisten wurden von Vätern und Vaterfiguren vergewaltigt. 96% liefen von zu Hause weg. 62% begannen vor ihrem 16. Lebensjahr, sich zu prostituieren.
Manche Frauen sagen, dass sie aus eigener Entscheidung auf der Straße seien, aber tatsächlich gibt es nichts zu entscheiden: Es ist die einzige Möglichkeit. Ich war darauf gedrillt worden. Mein Vater hat mich missbraucht und mich für Sex bezahlt. Hinterher gab er mir immer etwas was ich wollte und was er mir vorher vorenthalten hatte. Er brachte mir bei: Mehr verdienst du nicht. Das ist alles wozu du gut bist. Draußen auf der Straße hab ich bloß immer das gleiche Muster wiederholt". Auch wenn die Untersuchungen einen engen Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und Prostitution belegen, darf man nicht vergessen, dass sich auch Mädchen und Frauen sowie Jungen und Männer prostituieren die niemals sexuell missbraucht worden sind.
Immerwährende Erinnerungen
"Die Erinnerung an die Ereignisse sind eigentlich immer da, egal wo ich gerade bin, manchmal sehe ich es auch bildhaft vor Augen."
Die bisher angeführten möglichen Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Jugend machen es (auch aufgrund ihrer Wechselwirkungen) verständlich, warum es Opfern zunächst häufig nicht gelingt, ihre Missbrauchserlebnisse ganz bewusst vergessen und verdrängen zu wollen. Je nach zeitlicher Ausdehnung und Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs oder dem Ausmaß von erlebter Bedrohung und Gewalt gelingt dies nur unvollkommen. Dazu tragen auch unwillkürliche Erinnerungen an den früheren Missbrauch aufgrund augenblicklicher spezifischer Sinneseindrücke bei, welche wiederum zu körperliche und seelischen Stressreaktionen führen.
Es ist vor allem immer im Auge zu behalten:
Es ist die gesamte Verhaltensänderung des Kindes, die den Hinweis gibt, dass Gefahr im Verzug ist. Das aber bedeutet aufmerksame Beobachtung. Es ist ein hohes Maß an Wachsamkeit und Zuwendung notwendig, um ein plötzliches Auftreten etwa von Überreaktionen oder Rückzugstendenzen festzustellen. Die Signale, mit denen ein Kind versucht, sich mitzuteilen, sind so verschieden wie die Kinder selbst. Jede plötzlich auftretende Verhaltensänderung des Kindes sollten wir äußerst sorgfältig beobachten. Je mehr dieser Symptome wir erkennen können, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Kind sexuell missbraucht wurde. Auch wenn Kinder selten darüber reden, was ihnen angetan wurde, so sprechen doch diese Symptome und Verhaltensänderungen eine eigene Sprache.
7. Widerstandsformen und Überlebensstrategien sexuell missbrauchter Kinder
Wie Kinder sich wehren
Es gibt kein Mädchen und kein Jungen, die/der sich nicht gegen den sexuellen Missbrauch wehrt. Doch die wenigsten können sich später noch an ihre eigenen Widerstandformen erinnern, denn ihre kindliche Gegenwehr war zwecklos. Der Täter setzt sich über sie hinweg. Die Sehnsucht nach Beendigung der Übergriffe veranlasst die Mädchen und Jungen auf mannigfache Art und Weise auf ihr Leid hinzuweisen. Ich möchte nun kurz aufzeigen, welchen Überlebenswillen die Kinder haben und welche Kreativität sie entwickeln, um sich selbst zu schützen. Oftmals bauen Kinder ihr Spielzeug in einer langen Reihe von der Tür bis zum Bett auf und hoffen, dass es einen Knall gibt, wenn der Täter ins Zimmer kommt und das dadurch andere wach werden. Viele stellen Stühle unter die Türklinke oder rücken Möbel vor die Zimmertür. Die 4 jährige Anne streut Beispielsweise Popcorn vor die Zimmertür, damit es knackt, wenn der Täter drauftritt. Dann will sie ganz schnell zum Klo gehen und in der Hoffnung, dass die Mutter es hört, ganz laut abziehen. Mädchen befestigen die Reisverschlüsse von Hosen von innen mit einer Sicherheitsnadel, die der Täter nicht sieht, die ihn aber daran hindern soll es zu missbrauchen. Wenn der Missbrauch zu Hause und nachts passiert, wenden Kinder häufig die ineffektive Strategie an, dick eingewickelt in Decken zu schlafen, mehrere Kleidungsstücke übereinander zu ziehen oder sich schlafend zu stellen. Sie hoffen, dass der Täter sie dann in Ruhe lässt. Das Schlafendstellen ist zudem ein Mechanismus, der ihnen hilft, die sexuelle Gewalt zu ertragen. Sie sind dabei bemüht, das Geschehen auszublenden, sie versuchen sich aus der Realität wegzudenken und die Gefühle nicht wahrzunehmen. Andere nehmen ihren Hund mit ins Bett; er soll sie bewachen. Viele Opfer laden sich Klassenkameraden als Übernachtungsgäste ein und glauben sich so für die Nacht in Sicherheit. Lehrer wissen immer davon zu berichten, dass betroffene Mädchen und Jungen regelmäßig zu früh zum Unterricht kommen oder nach Schulschluss nicht nach Hause wollen. Für den Täter besteht in der Regel kein Anlass, freiwillig von seinem perfekten Verbrechen Abstand zu nehmen. Fast immer ist es das Opfer, das den Missbrauch beendet. In manchen Fällen leisten kleine Kinder aktiven Widerstand. Der Alltag betroffener Mädchen und Jungen wird durch die ständige Organisation der eigenen Flucht bestimmt. Notgedrungen entwickeln viele Opfer ein großes Organisationsgeschick. Sie versuchen, dem Täter aus dem Weg zu gehen oder zumindest nicht mit ihm allein zu sein. Zudem nehmen sie oftmals mit der Genauigkeit eines Seismographen atmosphärische Spannungen war: Ist das der besagte Blick? Wie ist der heute drauf? Sie lernen, sich mit großer Empfindsamkeit in die Bedürfnisse anderer einzufühlen und intuitiv Gefahren im Vorfeld zu erahnen.
Der Widerstand kostet die Kinder viel Kraft und vielen kann es nicht gelingen, den Täter dauerhaft an seinem Tun zu hindern. Selbst beim Schlafen balle ich die Fäuste, leiste ich Widerstand. Letztlich ging nichts". Die Kraft dem Missbrauch etwas entgegenzusetzen, erwächst nicht von selbst. Kinder brauchen Energiequellen, sie brauche Menschen, die sie ernst nehmen und ihnen ihr Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung vermitteln und im alltäglichen Umgang zugestehen, denn es sind die kleinen Begegnungen, aus denen betroffene Mädchen und Jungen die Kraft zur Gegenwehr und zum Überleben schöpfen. So kann das Lob der Lehrerin, das Spiel im Kindergarten, die Vorlesestunde des Opas zum Rettungsanker für das Opfer werden. Zu Hause konnte ich es kaum noch aushalten. Doch in den Ferien fuhr ich immer zu meiner Patentante. Hier war ich sicher und wurde gemocht. Jeden Morgen kochte sie mir ein weiches Ei. Einfach so, weil ich das so gerne mochte. Einmal ging sie mit mir sogar in einen richtigen Zirkus. Das habe ich nie vergessen. In den letzten Monaten habe ich viel an meine Patentante gedacht. Sie hat mich gemocht". Nicht umsonst berichten Erwachsene oft, dass Kinder und Jugendliche ihnen die letzte Energie rauben. Eben diese Fähigkeit, sich das zu holen, was sie brauchen, gibt Mädchens und Jungs die Kraft zu überleben.
7.1 Kinderzeichnungen
Ein besonderes Symptom kann das Malen und Zeichnen von angsteinflössenden Situationen sein. Kinder drücken ihre Gefühle im Spiel und durch Zeichnungen aus. Dabei kann dann auch der erfahrene sexuelle Missbrauch symbolisch ausgedrückt werden. Das betrifft in besonderem Maße Kinder im Kindergartenalter bis hin zu den ersten Jahren in der Grundschule. Besonders aufgrund der noch nicht vollständig entwickelten rhetorischen Fähigkeiten der Jungen und Mädchen und des vom Täter ausgehenden Geheimhaltungsgebot, können solche Kinderzeichnungen sinnvolle diagnostische Hilfsmittel sein. Das Kind malt, was es bewegt und vor was es Angst hat. In einschlägigen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass sexuell missbrauchte Kinder sehr häufig werden schon gemalte Motive bis zur Unkenntlichkeit überkritzelt, durchgestrichen oder weggeworfen. Vielfach lassen sich ursprünglich gemalte Formen nicht mehr erkennen. Für Eltern, Lehrer und Erzieher kann es wichtig sein, das Kind beim Malen zu beobachten. Es ist absolut notwendig darauf hinzuweisen, dass eine einzelne Kinderzeichnung noch keinen Aussagewert haben muss. Selbst wenn es sich bei der Zeichnung um ein noch so aussagekräftiges Bild handelt. Die Zeichnung kann bestenfalls einen Hinweis geben, denn auffällige Kinderbilder können aus unterschiedlichsten Beweggründen entstehen. Zum Beispiel zeichnen viele Kinder wilde Gespenster und unheimliche Monster, wenn sie aufgefordert werden alles zu malen was ihnen Angst macht. Erst dann, wenn bestimmte Motive immer wieder gezeichnet werden, lassen sich unter Umständen Rückschlüsse auf die Situation des Kindes treffen. Um bei einem Verdacht einen möglichen sexuellen Missbrauch aufzudecken, ist es am Wichtigsten, mit den Mädchen oder Jungen ein sehr vorsichtiges Gespräch zu führen. So können Sie z.B. bei einem Kind, welches ein angsterregendes Monster mit einer auffälligen Ausbuchtung gemalt hat, genauer nachfragen:
Kennst du dieses Monster?
Macht es dir manchmal Angst?
Was bedeutet das Gebilde da unten?
Gibt es jemanden in deiner Familie, der es zum Verschwinden bringen kann?
Bringen Sie Kindern, die auffällige Bilder malen oder ungewöhnliche Bemerkungen äußern, ihr einfühlendes Interesse entgegen, und signalisieren sie Gesprächsbereitschaft. Oft können die betroffenen Mädchen und Jungen so einen Weg aus ihrer Bedrängnis finden. Das Kind malt sich so, wie es die Welt und sich selbst empfindet: zerrissen, verzehrt, gestört, zerstört, eingezwängt in ein Gefängnis, oder es kennzeichnet die Körperteile besonders, an denen der Missbrauch stattfindet. Manchmal bringen Kinder auch ihre sehnlichsten Wünsche zu Papier: Sie zeichnen eine dicke Trennungsmauer zwischen sich selbst und dem Täter, oder sie malen sich selbst in eine schützende, Geborgenheit spendende Höhle hinein.
Marina, 5,7 Jahre alt
Das ist unsere Wohnung. Das ist das Zimmer von mir und meiner Schwester. Das ist mein Stockbett. Da liegt der Papa unter meiner Decke. Die Leni ist noch ganz klein und die ist auch zugedeckt. Dann kann man die Treppe runtergehen und aufs Klo gehen. Die Mama badet in der Badewanne. Im Wohnzimmer stehen Blumen auf dem Tisch."
Christina, 4,9 Jahre alt
Vom Vater missbraucht. Das Bild ist in der Therapie entstanden. Sie ist durchaus in der Lage, erkennbare Menschen zu malen. Ihre eigene Person malt sie zerstört, verstört, nach innen hinein verkrochen.
Susanne, 5,4 Jahre alt
Sie hat auch ihre Familie in Tiere verzaubert. Dabei hat der Freund der Mutter einen Busen erhalten: Ich mag den Ludwig nicht. Der ist nicht lieb." Frage: Was hat die Giraffe (Freund der Mutter) da vorne?" Antwort von Susanne: Das ist der Busen. Da kommt Milch raus."
Michael, 4,3 Jahre alt
Auf die Aufforderung hin, seine Familie mit einem Zauberstab in Tiere zu verwandeln, zeichnete er alle Familienmitglieder als Vögel. Der Nachbar blieb ein Mensch und hatte einen Piesi"; damit kann er Kleber machen!"
Karina, 5,2 Jahre alt
Das ist unser Haus. Da wohne ich. Das ist mein Kinderzimmer. Das ist mein Bett. Das bin ich. Nachts kommt ein Ungeheuer. Das zieht mir die Decke weg und macht mich nass."
8. Primäre und sekundäre Präventionsmöglichkeiten von sexuellem Missbrauch
8.1 Begriffsklärung
Der Begriff der Prävention stammt aus dem lateinischen und bedeutet soviel wie "vorbeugend, schützend eingreifen". In der einschlägigen Fachliteratur wird der Begriff der Prävention auf drei Stufen präzisiert. Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention sollten grundsätzlich in ihrer Bedeutung gleichwertig gewichtet werden, denn in der Praxis sind diese drei Instanzen oft nicht zu trennen.
Ziel primärpräventiver Arbeit ist eine Erziehungshaltung, die Mädchen und Jungen stärkt und das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung über ihren Körper fördert. Prävention zielt darauf ab, Kindern die eigene Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Umgebung zu ermöglichen, ihrer Einschätzung zu vertrauen, ihre Selbstbestimmtheit, ihren Eigenwillen und ihre Empfindungen zu respektieren.
Vorbeugen durch Angst?
Die meisten sexuellen Übergriffe gegen Kinder finden in der Familie oder im familiennahen Umfeld statt. Nur wenige Taten geschehen durch vollkommen fremde Menschen, die sich in böser Absicht einem Kind nähern. Ende der siebziger Jahre wurden in den USA die ersten regelrechten Präventionsmaßnahmen gegen sexuelle Gewalt entwickelt. Unabhängig von diesem besteht zum Teil noch bis heute, Prävention von sexueller Gewalt darin, Kinder durch Verbote und angstmachende Hinweise zu schützen. Diese basieren auf der Vorstellung von einem einmaligen gewalttätigen Übergriff durch einen fremden abartig veranlagten Täter.
Wenn Kinder dazu Fragen stellen, wird meist ausgewichen. So wichtig es ist, unsere Kinder auf Gefahren durch fremde Männer hinzuweisen, sollte man sie nicht übermäßig ängstigen.
Zusammengefasst beinhaltet traditionelle Prävention folgende Botschaften:
Es wird von dem unheimlichen, abnormen Fremden gewarnt.
Die Gefahr, die von diesem Fremden ausgeht, wird nicht näher benannt, erläutert oder definiert.
Kinder werden verunsichert und verängstigt
Ihre Handlungsspielräume, ihre Selbstständigkeit und ihre Unabhängigkeit werden durch mannigfaltige Verbote eingeschränkt und behindert.
Sie werden angehalten, bestimmten Personen immer und von vorneherein zu gehorchen und anderen dagegen nie.
Die früheren, traditionellen Präventionsmaßnahmen fördern die stärkere Abhängigkeit zu Erwachsenen und verstärken die Wehr- und Rechtlosigkeit und damit die Verletzbarkeit der Kinder. Verängstigte und abhängige Kinder, die über die hauptsächlichen Gefahrensorte nicht aufgeklärt wurden, haben weniger Chancen, sich gegen sexuellen Missbrauch im sozialen Nahbereich zu wehren sie werden zu Opfern erzogen.
Sicher sollten Kinder folgendes beachten, um sich vor fremden Tätern zu schützen:
Geh nicht zu weit weg von zu Hause!
Steig nie in das Auto eines Fremden ein!
Nimm keine Süßigkeiten von Fremden an!
Geh nicht allein durch dunkle Wege!
Aber es ist wichtig zu sagen: Sollten diese wohlgemeinten Ratschläge überhaupt eine Wirkung haben, dann hauptsächlich im Hinblick auf die Angst, die sie erzeugen. Angst ist ein schlechter Ratgeber, wenn wir die Kinder schützen wollen.
8.2 Entwicklungen der primären Präventionsarbeit
Wie bereits erwähnt, ist althergebrachte Prävention, die darauf basiert, Kinder vor fremden, bösen Männern zu warnen, wenig erfolgversprechend. Eine Aufklärung über sexuelle Gewalt ist jedoch ein wesentlicher Punkt der Prävention. Kindern soll die Kenntnis vermittelt werden, dass es sexuellen Missbrauch gibt. Sie sollen erfahren, wer die Täter sind, dass nicht nur Fremde, sondern auch Angehörige und Bekannte Täter sein können. Den Kindern fehlt eine klare, kindgerechte Definition um missbräuchliche Situationen überhaupt erkennen zu können.
Darüber hinaus äußern Erwachsene sehr oft die Befürchtung, dass Kinder durch die Aufklärung über sexuelle Gewalt Angst vor Männern bekämen. Die Gedanken sind nachvollziehbar und verständlich, jedoch nicht unbedingt richtig, denn gerade wenn sich Kinder ratlos, hilflos und ohnmächtig fühlen, bekommen sie Angst. Sexueller Missbrauch soll auf der gleichen Ebene wie andere schwierige Erziehungsinhalte behandelt werden. Verschiedene Autoren zum Thema neue Präventivansätze vertreten die altersgemäße und kindgerechte Aufklärung über sexuellen Missbrauch. Hierzu eine mögliche Formulierung: Es kann sein, dass dich jemand anfasst an deinem Po oder an deiner Brust oder an deiner Scheide, an deinem Penis und du willst das nicht. Es gibt Leute, oft Männer, die das machen. Das können Fremde sein, aber auch Freunde, Bekannte und sogar Verwandte. Du darfst das auf jeden Fall ablehnen und musst dich wehren. Dann fragen die Kinder vielleicht: Wieso machen die Männer das? und man kann den Kindern antworten: Ja, die haben Probleme, die brauchen das und sehen überhaupt nicht dabei, wie es den Kindern geht. Wenn direkt über sexuellen Missbrauch gesprochen wird, entwickeln Kinder weniger Angst, als wenn das Thema undurchsichtig bleibt. Kinder erfahren früher oder später so oder so von sexueller Gewalt und wagen dann möglicherweise nicht darüber zu reden oder zu fragen, wenn das Thema bisher ein Tabu war. Inzwischen gibt es gut durchdachte Programme, mit deren Hilfe Kinder lernen können, sich gegen sexuelle Übergriffe klar abzugrenzen. Die Programme der Prävention von sexueller Gewalt stammen zum größten Teil aus Amerika. Sie wurden vor ca. 15 Jahren von einem Teil der Frauenbewegung entwickelt.
Inzwischen gibt es in den USA eine fast unüberschaubare Vielzahl von Präventionsmaßnahmen, die seit ein paar Jahren auch in der BRD diskutiert und in kleinem Umfang ausprobiert werden. Diese Programme wenden sich an Vorschul- und Schulkinder und sie haben zum Ziel
Kinder und Jugendliche zu informieren, dass es sexuelle Gewalt gibt und was sexuelle Gewalt ist,
Kinder und Jugendliche wissen zu lassen, sich im Falle eines Übergriffes zu wehren.
Kurz gesagt liegt diesen Zielen der Gedanke zugrunde, dass Kinder sich vor der Gefahr schützen können, wenn sie von ihr wissen, wenn sie lernen, ihren eigenen Gefühlen zu trauen und sich dadurch wehren zu können: Sag nein, lauf und erzähl. Es werden Medien wie Malbücher, Comics, Geschichten, Filme und Theaterstücke eingesetzt und die Methoden reichen von der Gruppendiskussion bis hin zu Rollenspielen und Selbstverteidigungsübungen.
Wenn man es den Tätern schwer machen will, braucht es starke und selbstbewusste ja, freche Kinder. Solche Kinder, die laut und kräftig nein sagen und sich von keinem Menschen weder von Fremden noch von Freunden gegen ihren Willen anfassen lassen. Kinder sollen sehr genau wissen, was sie wollen, und vor allem was sie nicht wollen. Sie kommen nicht daran vorbei, die Welt schrittweise als eine, die Gefahren birgt, zu erleben. Leider ist sie auch nicht so klar geordnet, wie wir uns das wünschen. Nicht alles, was innerhalb der Familie geschieht, ist gut, und nicht alles, was außerhalb der Familie geschieht, ist schlecht. Die Gefahr kommt mitunter aus allernächster Nähe. Deshalb macht es wenig Sinn, vor den bösen Monstern draußen zu warnen und mögliche Täter im Haus zu übersehen. Selbstbewusstsein, Klarheit, Offenheit und Direktheit ist immer der bessere Weg die Kinder zu schützen.
Eine altersgemäße Sexualerziehung und die Möglichkeit, offen mit Kindern über Sexualität zu sprechen ist Grundlage primärer Prävention. Dabei geht es nicht um einmalige Aufklärung zu einem bestimmten Zeitpunkt, es geht auch nicht um ständige Aufklärungsgespräche und die Vermittlung eines mehr oder weniger gründlichen Wissens, sondern es geht um eine Erziehung, die sich als Verhaltensprägung versteht.
Altersgemäße Sexualerziehung ist primär Aufgabe der Eltern. Kindergarten und Schule unterstützen die Eltern bei dieser Aufgabe, deren Zielsetzung wie folgt definiert werden kann:
Grobziel:
Kindern und Jugendlichen zu einem selbstverantworteten Sexualverhalten zu verhelfen.
Teilziele:
Verhaltensprägung
Entwicklung eines gesunden Schamgefühls
Erwerb von sexuellen Informationen
Erlernen der sexuellen Erlebnisfähigkeit
Zur Umsetzung einer kind- und altersgerechten Sexualerziehung sollten folgende Zielvorstellungen betrachtet werden:
Sexualerziehung, verstanden als Liebeserziehung, muss überall dort geleistet werden, wo erzogen wird, also im Elternhaus bzw. in Ersatzfamilien, im Kindergarten, in der Schule, im Hort, im Jugendhaus. Dennoch kommt der Familie in dieser Hinsicht eine herausragende Position zu. Sexualerziehung ist von Anfang an eingebettet in Zärtlichkeit, gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Verantwortung. Außerdem ist Sexualerziehung Teil der Persönlichkeitserziehung des Kindes. So verstandene Sexualerziehung möchte dem Kind helfen, ein offenes, akzeptierendes und befriedigendes Verhältnis zum eigenen Körper zu bekommen, den Schutz vor Missbrauch zu ermöglichen und zum Aufbau von Selbstbewusstsein und Eigenidentität beizutragen.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass bis heute nicht sicher nachgewiesen werden konnte, dass solche Vorbeugungsprogramme die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs senken. Relativ sicher scheint aber zu sein, dass Kinder im Anschluss an solche Programme häufiger über einen sexuellen Missbrauch.
Die Vorbeugung vor sexuellem Missbrauch von Kindern sollte immer in die von früh auf erfolgende Sexualerziehung des Kindes eingefügt werden, dabei den grundlegenden Erziehungshaltungen in Richtung auf eine gewaltfreie, emanzipatorische sowie Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein fördernde Entwicklung der Kinder entsprechen sowie keine einmalige Aktion darstellen, sondern vielmehr fortlaufend erfolgen, wobei sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder ständig angepasst werden muss und Elternhaus sowie Kindergarten oder Schule zusammen arbeiten sollten.
Denn letztlich liegt die Verantwortung bei den Erwachsenen, für die Sicherheit der Kinder zu sorgen, und dementsprechend sollte auch den Kindern gesagt werden, dass Erwachsene ihnen gegenüber Verantwortung haben!
Der Erziehungswissenschaftler Liegle versuchte mit den folgenden 10 Geboten die Richtung für eine neue erzieherische Verantwortung der Erwachsenen gegenüber den Kindern aufzuzeigen:
1. Du sollst Kinder nicht als Mittel zu irgendeinem Zweck betrachten oder gebrauchen!
2. Du sollst Kinder nicht als Bausteine der Zukunft betrachten oder behandeln, sondern als Baumeister der Erwachsenen, die sei einmal werden wollen!
3. Du sollst dir kein Bildnis machen von dem zukünftigen Erwachsenen im Kind!
4. Beeinflusse das Kind nicht dadurch, dass du das forderst, was du selbst möchtest, dass das Kind es sei, sondern durch den Eindruck dessen, was du selber bist!
5. Ehre die Eigentümlichkeit und die Willkür deiner Kinder, auf das es ihnen wohl ergehe und sie kräftig leben auf Erden!
6. Vertraue auf die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten des Kindes und präge dir selbst den Gedanken ein, dass jedes Kind die Wiederholung der Naturkräfte und deshalb unbegrenzt ist wie das Weltall!
7. Du sollst Kinder lieben wie dich selbst, denn sie sind wie du, nämlich eine eigentümliche Persönlichkeit mit eigener Würde!
8. Du sollst Verantwortung übernehmen für dein Leben und Handeln, denn diese sind Wegweiser für die dir anvertrauten Kinder!
9. Du sollst Verantwortung übernehmen für die Welt, in der Kinder eine Zukunft haben sollen!
10. Liebe in deinen Kindern nicht dein Fleisch und Blut, nicht deine Zukunft, nicht dein Eigentum, sondern ihre Gegenwart, ihr Selbstsein und ihr Selbstwerden!
8.3 Das amerikanische Präventionsprojekt -Child Assault Prevention Projekt - CAPP
Das in der Bundesrepublik Deutschland wohl bekannteste Programm ist das Child Assault Prevention Projekt, das als eines der Ersten, Ende der 70er Jahre von Mitarbeiter eines Zentrums für vergewaltigte Frauen in den USA entwickelt wurde. Darin wird sexuelle Gewalt an Kindern nachdem US-Amerikanisch allgemein gültigen Wertesystem interpretiert. Da das CAPP-Programm auch in der Bundesrepublik immer mehr Anwendung findet, wird im folgenden seine Grundform kurz dargestellt.
Die vorhandene Stärke von Kindern soll ausgebaut werden, damit sich die Kinder aus eigener Kraft gegen den sexuellen Missbrauch wehren können. Die Kinder sollen lernen, ihre Gefühle zu erkennen und zu artikulieren, ihre emotionalen Grenzen anderen gegenüber auszusprechen und zu verteidigen sowie die persönlichen Grenzen anderer zu achten und zu respektieren. Grundsätzliches Ziel ist es, nicht Angst zu erzeugen, sondern die Kinder zu stärken, indem sie lernen, ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen.
Dementsprechend lautet der Slogan des CAPP-Programms: Safe, strong and free.
Den Kindern soll konkret vermittelt werden, dass sie das Recht haben nein" zu sagen, wenn Erwachsene oder Kinder aktive und passive körperliche Berührungen einfordern. Sie dürfen sich wehren sowie Schutz und Hilfe von Erwachsenen und Kindern einfordern. In Rollenspielen werden den Kindern diese Inhalte vermittelt. Vom Aufbau sind die durchgeführten Präventionsprogramme ähnlich.
Sie werden in Schulen und Kindergärten gemeindeweit durch ein ausgebildetes Trainerteam durchgeführt. Bevor der eigentliche Kinderworkshop, der ein bis zwei Stunden dauert, stattfindet, wird je ein Workshop für Lehrer/Erzieher und Eltern durchgeführt. Es werden Rollenspiele durchgeführt, in denen die Kinder die starken Rollen, die Trainer die schwachen Rollen und die Täter spielen.
Im nächsten Schritt werden die besprochenen Rechte in Form von drei Rollenspielen konkretisiert. In der ersten Szene versucht ein älteres Kind von einem jüngeren Geld zu erpressen. Der ältere Junge erklärt dem jüngeren Mädchen, dass sie ihm jetzt immer ihr Pausengeld geben soll und das das jetzt ihr besonderes Geheimnis sei. Die Trainer spielen das Rollenspiel vor und befragen anschließend die Klasse: Wie hat sich das Mädchen wohl gefühlt? Was hätte das Mädchen tun können? Im Anschluss werden in der Klasse Strategien erarbeitet, wie sich das Mädchen in dieser Situation helfen könnte z.B. es der Lehrerin oder den Eltern sagen. Anschließend üben die Kinder die Szene zweimal als Rollenspiel.
In der zweiten Szene versucht ein Fremder, ein Kind auf dem Spielplatz zu überreden, mit ihm zu kommen. Es werden ebenfalls verschiedene Widerstandstrategien erarbeitet. Die Trainer geben Hilfen: Wenn der Mann euch an den Arm packt, tretet ihn ans Schienbein, schreit laut und rennt weg. Sie üben sogar einen Selbstverteidigungsschrei. Diese Widerstandstrategien spielen die Kinder erneut im Rollenspiel.
In der dritten Szene möchte der Onkel von seiner Nichte einen Kuss erzwingen und setzt sie unter Druck, dies geheim zu halten. Vor dem Rollenspiel wird den Kindern das Thema sensibel nahegebracht. Dann führen sie das Rollenspiel vor. Nachdem wichtige Widerstandsformen erarbeitet wurden (wie z.B. nein sagen, weglaufen, weitererzählen usw.) wird das Rollenspiel wiederholt. Die Trainer spielen den ersten Durchgang jeweils derart vor, dass das Kind sich nicht wehren kann und unterliegt. Im Anschluss werden in der Klasse Strategien erarbeitet, wie sich das Kind in diesen Situationen helfen könnte. Danach üben die Kinder jede Szene zweimal als Rollenspiel. Dadurch sollen die Widerstandsformen gefestigt werden.
Am Ende des Workshops werden den Kindern von den Trainer Einzelgespräche angeboten, um über ihre persönlichen Probleme zu sprechen. Ebenfalls gibt es Faltblätter und weiterführende Literatur für Kinder, Eltern und Lehrer zur Vertiefung des Inhaltes. In den USA sollen Kinder viermal in ihrem Schulleben an einem solchen Training teilnehmen (Kindergarten, Grundschule, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II). In der Bundesrepublik Deutschland wird das CAPP-Programm vor allem in Grundschulen angeboten, wobei eine Ausweitung propagiert wird. Jedoch erfährt das CAPP-Programm auch hierzulande Kritik.
Der deutsche Kinderschutzbund hat seine Standpunkte in einer eigenen Broschüre zusammen gefasst. Die Kritik betrifft die Durchführung der Programme, ihre Effektivität und ihre Konzeption. Die Grundlagen der CAPP-Programme haben außerdem ein Präventionsverständnis das den Kindern die Verantwortung für ihren eigenen Schutz überträgt. Der Schwerpunkt der Prävention sollte bei den potentiell ausbeutenden Erwachsenen und bei kulturellen und gesellschaftlichen Werten liegen, die erlauben, dass dieses Problem fortbesteht. Hinzu kommt, dass das CAPP-Programm keinerlei eigene Hilfe für betroffene Kinder und deren Familien beinhaltet.
Die Einordnung sexueller Gewalt an Kindern steht bei den CAPP-Programmen im Zusammenhang mit der Debatte über Vergewaltigung an Frauen, wobei ein Schwerpunkt auf die Macht- und Gewaltkomponenten in sexualisierten Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern gelegt wird. Dies hat die Auswirkung, dass sexuelle Gewalterfahrungen von Kindern im sozialen Nahbereich, die vor allem auf Verführung und Überredung durch Erwachsene basiert, nicht differenziert erfasst werden. Darüber hinaus konzentriert sich das CAPP-Programm nicht auf den besonders schwerwiegenden familiären Kontext, sondern bezieht sich auf allen auf familienferne Täter.
Für den deutschen Kinderschutzbund ist das CAPP-Programm ethisch nicht vertretbar. Kinder, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind, nehmen an den Workshops teil und machen durch deren Inhalte zwangsläufig die Erfahrung, dass sie an ihrer Situation Schuld tragen, da sie ja die Möglichkeit hätten, sich zu wehren und sicher, stark und frei" zu sein.
Ein weiterer Kritikpunkt am CAPP-Programm bezieht sich auf den Umgang mit Sexualität. Über Sexualität wird nicht offen gesprochen. Geschlechtsteile und sexuelle Handlungen werden nicht konkret beim Namen genannt, stattdessen ist die Rede vom Intimbereich oder von Berührungen unter der Unterhose. Kinder können nicht begreifen, was sexueller Missbrauch ist. Eine solche Ausblendung hat fatale Konsequenzen, es stiftet Verwirrung, verharmlost und verschleiert die Verletzung, die Demütigung, die Beschämung und die Hilflosigkeit, die die Realität vonsexuellem Missbrauch ausmacht.
8.4 Primäre Prävention als Aufgabe in der Grundschule
Gerade weil sexueller Missbrauch eine Form der Gewalt darstellt, der Kinder ausgesetzt sein können, sollte die Vorbeugung sowohl im Kindergarten als auch in der Schule stattfinden. Aber ich kann die Kinder doch nicht in den Stuhlkreis setzen und ihnen erzählen, welche schlimmen Sachen manche Papas und Onkels mit Kindern machen!
Nein, so soll in Kindergärten und in Grundschulen sicher nicht vorgegangen werden. Prävention bedeutet viel mehr als Warnungen. Sie ist eine Erziehungshaltung und muss integriert werden in den erzieherischen Alltag. Die Ziele von Prävention, Stärke und Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen und körperliche Selbstbestimmung müssen gefordert werden.
Eine angemessene Prävention sollte indes Mut machen und den Kindern Selbstvertrauen geben. Das Kind muss gestärkt werden, sich gegen einen sexuellen Missbrauch auch innerhalb der Familie zu wehren. Dies kann nur erreicht werden, wenn eine Erziehung zur körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung stattfindet. Wie kann ich Mädchen und Jungen im Unterricht über Gefahren sexuellen Missbrauchs aufklären? Ist das Thema Primärprävention von sexuellem Missbrauch Bestandteil des Lehrplans? Hat man im Bildungsplan für die Grundschule von 1984 nach Themen der Sexualerziehung gesucht, musste man leider feststellen, dass dieses Thema im Heimat- und Sachunterricht nicht erwähnt wurde. Da die Voraussetzung für einen Aufklärungsunterricht über sexuellen Missbrauch immer eine Sexualerziehung ist, war zu diesem Zeitpunkt, nach den Vorgaben des Lehrplans zumindest, eine sinnvolle Prävention nicht möglich. Erst 1994 finden sich im Lehrplanheft wichtige Ansatzpunkte der Primärprävention. Im Erziehungs- und Bildungsplan hei t es: Mädchen und Jungen werden darin unterstützt, ihre geschlechtliche Identität zu finden. Dies entspricht einer ganzheitlichen Bildung der Persönlichkeit. Fragen der Kinder aus dem Bereich der Geschlechtlichkeit sollen im Unterricht behutsam und in angemessener Sprache beantwortet werden. Dazu können in besonderen Fällen Lehrplaneinheiten bzw. einzelne Inhalte zur Geschlechtserziehung in Abweichung vom Bildungsplan in früheren oder späteren Schuljahren unterrichtet werden. Zentrale Aufgabe (...) ist es, die Kinder in ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie sich gegen Verführungen selbstbewusst behaupten können. Elternhaus und Schule sollen zum Wohle der Kinder dabei vertrauensvoll zusammenwirken".
Im Fach Heimat- und Sachunterricht gibt es einige Themen im Lehrplan der Grundschule, bei denen es sich anbietet, über Sexualität im Allgemeinen und Primärprävention von sexuellem Missbrauch im Besonderen etwas gründlicher einzugehen. Die Richtlinien für die Grundschule geben Lehrer ausreichend Spielraum um im Schulalltag die Problematik anzusprechen und ausführliche und differenzierte Unterrichtseinheiten durchzuführen. Entsprechend den Richtlinien soll die Sexualerziehung als Teil der Gesamterziehung Schüler befähigen, ihr Leben bewusst und in freier Entscheidung selbst zu gestalten. Es soll eine Lebensführung angestrebt werden, in der die Geschlechtlichkeit als ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Daseins anerkannt und bejaht wird, oder das Schwierigkeiten und Konflikte bagatellisiert oder verharmlost werden. Dementsprechend gilt es, Schüler in altersangemessener Weise sachgerecht über die Gefahr sexueller Gewalt aufzuklären und ihnen Möglichkeiten der Hilfe und Gegenwehr aufzuzeigen.
Keinesfalls darf Mädchen und Jungen Angst gemacht werden. Die Sexualerziehung in der Schule soll ein Verantwortungsbewusstsein entwickeln, und stärken, das eine Herabsetzung und Missachtung sowie die körperliche und seelische Schädigung des Partners und dessen sexuelle Ausbeutung ausschließt. Die Richtlinien für die Grundschule (NRW 1985) kennen als primäres Ziel die Achtung vor der Würde des Menschen die Würde des Kindes ist zu achten. Um dieses Ziel zu realisieren, steht die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung (NRW 1985) und damit die Stärkung des Selbstbewusstseins der Schüler im Vordergrund. Mädchen und Jungen brauchen verlässliche Orientierungen, damit sie ihre eigenen Stärken und Grenzen einschätzen lernen und gefährlichen Situationen nicht wehrlos und ohne Hilfe gegenüberstehen. Sprechen Lehrer im Unterricht die Thematik des sexuellen Missbrauchs von Mädchen und Jungen an, so geben sie Kindern ein Stück Sicherheit, den diese erfahren, dass sie mit Klassenkameraden und Lehrer über sexuellen Missbrauch sprechen können und dürfen. Sie kennen damit Menschen, denen sie sich bei sexuellem Missbrauch anvertrauen können, die ihnen helfen.
8.4.1 Primäre Prävention im Unterricht
Der Mediziner Jörg Fergert beschreibt folgende Themenbereiche, die maßgebend sind für eine präventive Erziehung. Dabei sollten die Themen "Gefühle", "Hilfe holen", "Nein sagen", "gute und schlechte Geheimnisse", "Überwindung geschlechtsspezifischer Sozialisation" und "mein Körper/Sexualerziehung" angesprochen werden.
Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung Mein Körper gehört mir!
Dein Körper gehört dir. Du bist einzigartig, wichtig und liebenswert. Du kannst stolz auf dich und deinen Körper sein; und du hast das Recht zu bestimmen, was mit deinem Körper geschieht".
Jedes Kind hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wenn Kinder stolz auf ihren Körper sind, können sie das Prinzip der Kontrolle des Zugangs zum eigenen Körper lernen. Dies kann in vielen Alltagssituationen ausdrücklich betont, geübt und unterstützt werden. Es beinhaltet weit mehr, als das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu respektieren und einzuhalten. Verschiedene Beispiele lassen dies deutlich werden: Wenn die Oma der Enkelin über das Haar streicht, hat das Kind das Recht sich zu entziehen. Das Kind hat das Recht, die Umarmung oder den Kuss des Onkels nicht zu mögen, doch aber seine Schokolade oder auch den restlichen Onkel. Das Kind hat auch das Recht den Onkel heute nicht, aber morgen vielleicht doch zu mögen und zu umarmen. In der Vorpubertät entwickeln Kinder sehr oft das Bedürfnis alleine im Badezimmer zu sein. Das Kind entwickelt Schamgefühle und geniert sich, mit anderen das Badezimmer zu teilen. Es hat ein Recht darauf, dass seine Bedürfnisse respektiert werden. Und es hat natürlich das Recht, die Eltern nicht berühren und küssen zu wollen bzw. nicht gestreichelt werden zu wollen.
Es ist für Kinder wichtig, ihre Körper kennen zu lernen sowie Namen und Wörter gerade für Genitalien und andere Körperteile zu finden. Die Kinder sollen erfahren, dass sie eins sind mit ihrem Körper und das niemand das Recht hat, sie in ihrer Integrität zu verletzen. Indem das Kind lernt, den eigenen Körper gegen Grenzüberschreitungen zu schützen, schützt es auch sein Inneres. Dazu zählt es auch, dass es seinen eigenen Körper wahrnimmt, ihn liebt und ihn im Notfall verteidigt. Kinder, die ihren Körper lieben und sich ihres Körpers bewusst sind, sind sich ihrer Persönlichkeit bewusst. Sie sind sich selbst bewusst.
Das Recht auf die eigene Intuition Ich kann mich auf meine Gefühle verlassen! Du kannst dich auf deine Gefühle verlassen und ihnen trauen. Höre und vertraue deinem Gefühl. Wenn sich etwas seltsam, blöd, komisch oder unangenehm anfühlt, hast du das Recht, so zu fühlen. "Du kannst dich immer auf deine Gefühle verlassen, egal was ein anderer sagt".
Wenn Kinder lernen auf ihre Gefühle zu achten, sie als Maßstab für ihr Handeln anzusehen, lassen sie sich nicht so leicht zu sexuellen Handlungen überreden und vor allem lassen sie sich nicht so schnell einreden, sie hätten es doch auch gewollt oder schön gefunden. Wenn Kinder spüren und wissen, dass sie selbst keine Schuld haben, wird die Geheimhaltung wesentlich erschwert. Schon dreijährige können lernen ihre Gefühle genau zu betrachten und ernst zu nehmen, wenn sie die entsprechende Unterstützung und den Raum für die eigene Erfahrung erhalten. Wenn ein Kind die Erfahrungsmöglichkeit zur Gefühlsdifferenzierung hat, erfährt es auch, dass es erlaubt ist, anders zu fühlen als andere und dass seine Gefühle in Ordnung sind, so wie sie sind. Kinder sollen darüber hinaus lernen, komische Gefühle zu beachten und auszudrücken. Solche Gefühle, die sie vielleicht gar nicht ganz einordnen können, nicht verstehen, nicht kennen, die verwirrend sind, weil die Situation neu für sie ist. Durch das darstellende Spiel Gefühlsgedicht" lernen die Kinder verschiedene, gegensätzliche Gefühle kennen und ausdrücken. Es ist aufschlussreich, welche Gefühle sie gut darstellen können, welche nur schwer oder gar nicht. Wo Schwierigkeiten in der Gefühlsäußerung stehen, sollte durch wiederholte, spielerische Übungen gezielt gefördert werden.
Gefühlsgedicht
Angst und Mut Glück und Wut Ernst und Scherz Lachen und Schmerz Freude und Trauer Süß und Sauer hauen und küssen dürfen und müssen stark und schwach müde und wach wehren und ducken weinen und mucken |
Es werden zwei Gruppen gebildet, die die gegensätzlichen Gefühle darstellen und vorspielen. Durch das darstellende Spiel "Gefühlsgedicht" lernen die Kinder verschiedene, gegensätzliche Gefühle kennen und ausdrücken. Es ist aufschlussreich, welche Gefühle sie gut darstellen können, welche nur schwer oder gar nicht. Wo Schwierigkeiten in der Gefühlsäußerung bestehen, sollte durch wiederholte, spielerische Übung gezielt gefördert werden. |
Einige zugenbrecherische Gefühle:
Werner weint wieder wegen Wolfgang, weil Wolfgang wild und wütend wirkt. Tina tobt tierisch trotzig, aber Tanja tröstet Tina trotzdem. Laura lacht lieber lustig und laut als leise und langweilig
Wichtig ist hier wieder: Über Gefühle, wie Angst, mit Kindern zu sprechen, darf allerdings nicht heißen, ihnen Angst zu machen. Sie sollten auch immer Möglichkeiten der Angstbewältigung und der Abwehr kennen lernen, wie im Folgenden kleinen Vers mit dem Titel
"Nachtgespenst":
Kommt ein Gespenst in der Nacht,
das mir Angst macht,
schrei ich es an,
so laut ich kann!
Gespenst kriegt ´n Schreck,
ist nix wie weg.
Hier bietet sich ein guter Anlass, mit Kindern zu sprechen und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.
Die kleine Geschichte "Melanie und das Gespenst" spricht Angstgefühle und Handlungsmöglichkeiten an. Sie berichtet aber auch in der Form kindlicher Erlebnisweisen von einem sexuellen Übergriff und setzt für betroffene Kinder ein Signal: Ich weiß von solchen Übergriffen, ich glaube dir, wenn du davon erzählen willst. Auch das "Schlafgedicht" motiviert die Kinder, über ihre Gewohnheiten und Ängste zu sprechen. Viele sexuelle Übergriffe spielen sich im Bett des Kindes ab, sodass für Betroffene das Zubettgehen angstbesetzt ist.
Der Mimwürfel ist bestens dazu geeignet, über Gefühle zu sprechen oder zu spielen. Der Mimwürfel, ein großer Holzwürfel, zeigt auf jeder Seite ein Gefühlsgesicht: Der Optimist ist gut dabei der Strahlemann ist sehr gut drauf der Zornige ist sehr wütend der Pessimist ist schlecht drauf der Erstaunte wundert sich nur der Unentschiedene weiß es noch nicht.
Ein Spielvorschlag: Die Kinder sitzen im Kreis. Jedes Kind würfelt und sagt, welchen Ausdruck das Gesicht hat. Das Kind erzählt dann, wie es war, als es selbst einmal ein solches Gefühl hatte.
Projekt Stimmungsecken
Zum Schluss noch ein Projektvorschlag, nachdem die Kinder nun schon viel über ihre Gefühle gelernt haben: Im Spiel oder Klassenraum werden Stimmungsecken eingerichtet, in die das Kind sich zurückziehen kann. Die Ecken werden gekennzeichnet durch Gesichter, die bestimmte Gefühle ausdrücken, z.B. Wut, Traurigkeit, gute Laune. Die Gesichter können aus Zeitschriften ausgeschnitten werden. Die Kinder lernen so, ihre Gefühle zu erkennen und sie auszudrücken. In der Stimmungsecke kann die Erzieherin aber auch ein Gespräch mit dem Kind beginnen über sein Gefühl und die Gründe dafür. Das Kind hat eine Möglichkeit, ohne Worte zu signalisieren, dass es ein Problem hat, z.B. Wenn es immer wieder in die Angstecke geht.
Ein Gefühle-Memory:
Reichling, Ursula / Wolters, Dorothee:
"Hallo, wie geht es Dir?" Gefühle ausdrücken lernen.
Verlag an der Ruhr, Mühlheim an der Ruhr 1994
Berührungen Es gibt gute, schlechte und merkwürdige Berührungen. Es gibt verschiedene Berührungen. Berührungen sind für jeden Mensch wichtig. Liebevolle, angenehme und zärtliche Berührungen fühlen sich gut an. Wir alle brauchen Umarmungen, wollen gestreichelt und gedrückt werden und sind glücklich, wenn wir dies alles bekommen. Aber nicht alle Berührungen sind angenehm. Einige verwirren uns, wie z.B. zu lange und zu feste Umarmungen. Einige sind einfach komisch, und du weißt gar nicht genau warum. Einige Berührungen tun richtig weh. Berührungen, die wehtun, sind nicht in Ordnung. Niemand wird gerne gehauen, geschlagen, getreten oder geschubst. "Gegen Berührungen die für dich unangenehm sind, die wehtun, die du nicht willst, darfst du dich immer wehren".
Der Punkt Berührungen ist eng mit dem Punkt der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung verknüpft, jedoch werden hier verschiedene Qualitäten von Berührungen erklärt. Es sollten gleichberechtigt gute, komische und unangenehme Berührungen angesprochen werden. Der Hauptaspekt liegt in den eigenen Gefühlen: Was für dich unangenehm ist, ist nicht okay, ganz egal, was der andere denkt oder will.
Damit das Kind spüren und ausdrücken kann, was unangenehm ist, ist es wiederum wichtig, die eigenen Gefühle zunächst wahrnehmen und differenzieren zu können.
Das Recht auf Wiederstand und Ungehorsam Nein sagen!
Nein sagen ist erlaubt. Kinder haben das Recht Nein zu sagen. Du hast meine Erlaubnis, Nein zu Erwachsenen zu sagen, die dich auf eine Art berühren, die dir nicht gefällt. Es ist ganz wichtig für Kinder, Nein sagen zu dürfen und das auch zu lernen. Kinder dürfen und müssen in bestimmten Situationen Grenzen ziehen und Nein zu den Anforderungen Erwachsener zu sagen. "Sie haben die Erlaubnis, nicht zu gehorchen und sich zu wehren".
Eltern können bei allen möglichen Gelegenheiten die Kinder anhalten zu spüren, was sie selbst wollen und dem Ausdruck verleihen. Wenn Kinder nicht im Erziehungsalltag die Erfahrung machen können, dass es möglich ist, Nein zu sagen, ohne die Zuwendung und Liebe anderer zu verlieren, wird es ihnen auch schwer fallen Nein zu sagen, wenn sie sexuell missbraucht werden. Kinder müssen erfahren, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass ein Nein Ärger, Trennung oder Ablehnung bedeutet. Ein wichtiger Aspekt ist, dass Kinder trotz der Erziehung zur Selbstständigkeit in entscheidenden Augenblicken es vielleicht nicht schaffen Nein zu sagen. Kinder müssen erfahren, dass sie dafür keine Schuld trifft. Wenn Kinder sich nicht wehren können, sollen sie wissen, dass sie kommen und davon erzählen können.
Auch wenn es vielen Kindern schwer fällt, sich zu wehren und Nein zu sagen, kann auch diese Fähigkeit den Kindern näher gebracht werden. Schon durch kleine Spielereien wie Abzählreime oder Fingerspiele:
Abzählverse:
Schirm, Stock, Hut,
ich hab Mut,
ich sag Nein
und du fällst rein.
oder:
Ene, mene, muh,
Lass mich in Ruh,
fas mich nicht an,
denn jetzt bist du dran.
Fingerspiel:
Emil und Trine
Emil ist groß, Trine ist klein, Emil will schubsen, Trine sagt Nein. Trine holt Hilfe, bei den anderen drei´n, Emil guckt dumm, jetzt ist er allein. |
Den Daumen hochhalten, den kleinen Finger hochhalten, der Daumen schubst den kleinen Finger, der wackelt hin und her, die mittleren drei Finger bedecken den kleinen Finger, den Daumen hochhalten und dann abknicken. |
Tante Kathrein
Die Tante Kathrein
soll ich immer küssen,
dass Kinder so was müssen,
find ich gemein.
Zu Onkel Hein
soll ich auf´n Schoß,
dazu bin ich zu groß,
deshalb sag ich Nein.
Hast Du auch so eine Tante
oder sonstige Verwandte,
die dich nicht in Ruhe lassen,
immer drücken und anfassen?
Wenn mich wer anfasst
und mit das nicht passt,
sag ich laut und deutlich Nein,
ich will das nicht, drum lass es sein.
- Gisela Braun
Das Gedicht bietet eine guten Gesprächsanlass, um über Berührungen zu sprechen, die von Bekannten und vertrauten Personen kommen. Nach der dritten Strophe kann man inne halten und mit den Kindern über ihre Erfahrungen sprechen. Sie wissen bestimmt von ähnlichen Situationen zu erzählen, wie sie in dem Gedicht angesprochen werden. Nun kann besprochen werden, was die Kinder tun können, wenn sie solche Berührungen nicht mögen. Die Erzieherin/Lehrerin sollte ihnen sagen, dass es ihr gutes Recht ist, Berührungen zurück zu weisen, auch wenn diese von einer Person kommen, die sie eigentlich gern haben, auch wenn sie die Berührungen zu einem anderen Zeitpunkt mögen. Oft werden Zärtlichkeiten von Erwachsenen mit materiellen Zuwendungen verknüpft. Die Kinder kommen dann in einen Konflikt, weil sie das Geschenk wollen, aber nicht die Zärtlichkeit. Es ist wichtig für sie zu wissen, dass sie ruhig das Geschenk wollen und annehmen dürfen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Die letzte Strophe des Gedichts bietet den Kindern nun Handlungsmöglichkeiten an und macht ihnen Mut, sich zu wehren. Manche Kinder sagen zwar Nein, wenn ihnen etwas nicht gefällt, aber sie sagen es schüchtern, zögernd und leise und... werden nicht ernst genommen. Kommt dagegen das Nein laut, deutlich uns selbstbewusst, können die Kinder ihre Interessen und vor allem ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung besser durchsetzen.
Die Spielleiterin kann dies den Kindern vorspielen: Ich zeige euch jetzt zwei Arten, Nein zu sagen. Ihr sollt mir sagen, welches Nein besser ist. Mit welchem Nein könnt ihr euch besser durchsetzen? Sie sagt leise und zurückhaltend Nein, guckt dabei zur Seite, duckt sich ein bisschen. Sie ruft laut und deutlich Nein, richtet sich dabei auf und hebt den Kopf. Die Kinder merken, dass das zweite Nein viel mehr Wirkung hat. Die Gruppe kann es selbst ausprobieren, indem sie einige Male leise und laut Nein sagt.
Kreisspiel Die Burg:
Eine kleinere Kindergruppe spielt Burg. (die Kinder fassen sich an den Händen und bilden einen Kreis.) Zwei oder drei andere Kinder wollen in die Burg (den Kreis) eingelassen werden. Es gibt aber einen Zauber Türgriff. Der muss gesucht werden, indem die au enstehenden Kinder die im Kreis auf unterschiedliche Weise berühren (streicheln, zwicken, stupsen, küssen und ähnliches). Ist die Berührung unangenehm oder möchte das Kind gar nicht berührt werden, sagt es: Nein, nein, nein, so lass ich dich nicht ein! Der Kreis bleibt geschlossen. War die Berührung angenehm ist die Antwort: Das war fein, du darfst rein! Der Kreis öffnet sich und die beiden Kinder tauschen die Plätze und Aufgaben.
Um verschieden Ausdrucksformen auszuprobieren spielen die Kinder eine Pantomime:
Ich sag Nein mit dem Gesicht.
Ich sag Nein mit meinem Körper.
Ich sag Nein mit meinen Händen.
Ich sag Nein mit meinen Füssen. usw.
Gute und schlechte Geheimnisse niemand kann mir verbieten ein belastendes Geheimnis weiterzuerzählen.
Schöne Geheimnisse sind spannend und machen Freude, z.B. Geburtstagsgeschenke oder Streiche mit Gleichaltrigen. Aber der Witz dabei ist, dass man sie doch irgendwann erzählt. Wenn Heimlichkeiten unheimlich werden, wenn dich jemand zwingen will etwas nicht zu sagen und es sich bedrohlich anfühlt, ist das ein schlechtes Geheimnis, das du erzählen sollst. Wenn dir jemand sagt: Erzähl niemandem davon! Oder dir Angst macht, damit du niemandem davon erzählst, dann möchte ich, dass du es erzählst. Du musst dem anderen nicht gehorchen, selbst wenn du es versprochen hast"
Es gibt immer wieder Gelegenheiten Kindern den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen klarzumachen. Je nachdem, ob man sich gut oder schlecht fühlt, ist auch das Geheimnis gut oder schlecht. Eine Ermutigung schlechte Geheimnisse weiterzuerzählen ist der folgende
Zungenbrecher:
Wenn Du sagst, ich soll nicht fragen,
soll mich nichts zu sagen wagen,
sagt mir mein Gefühl im Magen,
ich wird´s trotzdem weitersagen.
- Gisela Braun
Eine klitzekleine Geschichte:
Ich habe ein kleines Geheimnis,
das ist gar nicht so klein.
Eigentlich ist es groß und schwer,
so schwer wie ein Stein.
Es liegt in meinem Bauch und drückt und zwickt,
ich kriege Bauchweh davon.
Gute Geheimnisse machen kein Bauchweh,
nur schlechte Geheimnisse.
Ich will kein Bauchweh
Und ich will kein schlechtes Geheimnis.
Ich erzähle jemandem davon,
dann geht das Bauchweh weg.
Wenn Du ein Bauchweh Geheimnis hast,
wem erzählst Du davon?
- Gisela Braun
Bei diesen Einheiten geht es immer darum, Kindern Gelegenheit zu geben, Beispiele für Geheimnisse aus ihrem Lebensalltag zu nennen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Es hilft den Mädchen und Jungen, wenn im Gespräch herausgearbeitet wird, wem sie ein schlechtes Geheimnis erzählen würden. Viele werden sicher Papa und Mama nennen, aber nicht immer können sich Kinder den Eltern anvertrauen.
Also sollte diese Helferinnenliste auch weitere vertraute Personen enthalten, z.B. Oma, Tante, Erzieherin, Lehrerin usw.. Die klitzekleine Geschichte und der Zungenbrecher geben betroffenen Kindern ausdrücklich die Erlaubnis und die Bestärkung, sich anzuvertrauen.
Das Recht auf Hilfe und Unterstützung Ich weiß, dass ich mir Hilfe holen darf!
Wenn Du ein Problem hast, wenn dich ein blödes Geheimnis bedrückt oder du nicht mehr weiter weißt, sprich mit jemandem und hol dir Hilfe. Es kann sein, dass der Mensch, dem du dich anvertraust, dir nicht glaubt oder sogar böse wird. Gib nie auf und suche dir einen anderen, der dir zuhört und hilft. "Du hast ein Recht auf Hilfe und Unterstützung".
Kinder, die sexuell missbraucht werden, sind häufig hoffnungslos verstrickt. Die meisten missbrauchten Kinder fühlen sich schuldig oder mitschuldig an ihrer Lage. Sie müssen wissen, dass wir an ihnen interessiert sind, auch wenn sie sich noch so eigenartig verhalten. Kinder müssen bestärkt werden, sich Hilfe zu holen wenn sie Probleme haben. Denn einer ist keiner und zwei sind mehr als einer, wie es in einem Kinderlied aus dem Liederbuch des Grips-Theater heißt. Zu zweit oder mit mehreren lassen sich Schwierigkeiten eben leichter lösen.
Es gibt unzählige Formen von Fangspielen, die leicht abzuwandeln sind, in der Form, dass der Fänger die Kinder nicht abschlagen kann, wenn sie sich aneinander festhalten, sich umarmen, sich gegenseitig helfen. Oft können große Leute mehr als kleine. Sie sind stärker und eben größer. Aber kleine Leute sind auch stark, wenn sie sich Hilfe suchen. Hilfe holen, ist der erste Schritt, sich mitzuteilen. Also: wenn man sich Hilfe holt, kann man viel erreichen!
Jungen und Mädchen
Ich denke, dass es wichtig ist, von der traditionellen geschlechtsspezifischen Erziehung Abstand zu nehmen. Vielmehr sollte es Ziel einer emanzipatorischen und gleichzeitig präventiv wirksamen Erziehung sein, Mädchen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken und sie zu ermuten, sich auch gegen Jungen durchzusetzen.
Jungen, die geschlechtsspezifische Rollen einnehmen, müssen lernen, dass es Grenzen gibt und zwar dort, wo die Rechte der Mädchen angetastet werden. Zu dieser Thematik gibt es mittlerweile einig sehr schöne Kinderbücher, wie etwas "Das Schweinebuch", "Die Tütenprinzessin", "Kati Knack die Nuss", "Prinzessin Pfiffigunde" oder "Marzipan Rosa". Im Liederbuch des Berliner Grips-Theaters finden sich viele Lieder, die sehr gut zur Thematik passen. In Klaus W. Hoffmanns Liederbuch "Wenn der Elefant in die Disco geht" gibt es brauchbare Spiellieder, wie z.B. "Das Lied von den Gefühlen" oder das "Lied von der Angst in der Nacht" die als Anregung für Gespräche und darstellendes Spiel genutzt werden können.
Erwachsene machen Fehler
Eine ganz wichtige Information für Kinder ist, dass Erwachsene auch Fehler machen. Kindern sollte diese Botschaft unbedingt vermittelt werden. Erwachsene machen Fehler. Sie machen Dinge, die dir wehtun und das dürfen sie nicht. "Sie haben kein Recht dazu. Du bist nicht Schuld daran".
Zwei weitere Präventionsregeln werden häufig nicht ausdrücklich benannt oder gar völlig vergessen:
Kein Erwachsener hat das Recht, Kindern Angst zu machen. Gerade wenn jemand zu dir sagt, dass etwas Schreckliches passiert, falls du einem anderen Menschen von den unangenehmen Berührungen oder Gefühlen erzählst, darfst Du andere um Hilfe bitten.
Wer (welches Kind / welcher Erwachsene) kann dir helfen? Kinder können ohne Hilfe sexuelle Gewalt kaum abwehren oder aufdecken. Es ist sinnvoll mit den Kindern zu überlegen, an wen sie sich im Fall des Falles wenden können.
Will man all diese vorbeugenden Konzepte verwirklichen, dann müssen Orte der Prävention wie Familie, der Kindergarten, die Schule und andere Bereiche professionalisierter Pädagogik und Sozialarbeit sein. Eine besondere Bedeutung kommt dem Schulbereich zu, denn alle Kinder sind verpflichtet diese Einrichtungen zu besuchen. Das Problem des sexuellen Missbrauchs sollte fest in den Biologie- und Sexualkundeunterricht integriert werden. Dafür brauchen Lehrer jedoch fachliche Unterstützung und geeignete Materialien. Die Schulbücher müssen für diese Fächer überarbeitet werden, damit sie eine realitätsgerechte Aufklärung liefern. Letztlich liegt die Verantwortung bei den Erwachsenen, für die Sicherheit des Kindes zu sorgen und dementsprechend sollte auch den Kindern gesagt werden, dass Erwachsene ihnen gegenüber Verantwortung haben.
Zentrale Themen der Prävention können, wie gesehen, spielerisch umgesetzt werden. Wahrnehmung und Einordnung von Gefühlen, Unterscheidung von guten und schlechten Berührungen, Nein sagen, Geheimnisse, Hilfe holen. Kinder werden in diesen Bereich gestärkt, ohne das gewaltsame sexuelle Übergriffe direkt angesprochen werden. Damit wird vermieden, dass Kinder aufwachsen in dem Gefühl, Gewalt und Sexualität seien eins und so ein negatives Verständnis von Sexualität erhalten. Trotzdem werden solche Übergriffe angedeutet. Dies hat neben dem präventivem noch einen weiteren Effekt: Betroffene Kinder fühlen sich angesprochen. Vielleicht bekommen sie Mut, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren, vielleicht erhalten sie Handlungsperspektiven. Zumindest merken sie, dass es hier Erwachsene gibt, die von dem Problem wissen. Anscheinend sind sie nicht die Einzigen, die unter dem komischen" Verhalten mancher Menschen leiden. Die Spiele und Geschichten können Gesprächsanlass sein, sodass eine Atmosphäre der Offenheit entsteht, die betroffene Kinder ermutigt, sich anzuvertrauen und Hilfe zu suchen.
8.5 Sekundäre Präventionsmöglichkeiten von sexuellem Missbrauch
8.5.1 Mögliche Hinweise auf sexuellen Missbrauch im Schulalltag
In den meisten Fällen von Gewalt gegen Kinder gibt es keine sichtbaren körperlichen Zeichen oder Symptome. Dies macht es oft schwierig herauszufinden, dass ein Kind sexuell missbraucht worden ist, insbesondere wenn das Kind nichts über den Missbrauch erzählt. Es gibt jedoch einige allgemeine Merkmale, die bei allen Kindern, die sexuell missbraucht worden sind, gleich sind und die darauf hinweisen, dass etwas nicht stimmt.
Allein schon die Tatsache, dass sie für diese Zeichen und Symptome aufgeschlossen sind, ist hilfreich, insbesondere wenn das Kind sich mut und hoffnungslos gibt oder ein furchtsames Verhalten an den Tag legt, also immer vor etwas auf der Hut zu seien scheint. Menschen, die mit missbrauchten Kindern zu tun haben, pflegen ein solches Verhalten als eisige Wachsamkeit zu bezeichnen. Es ist so, als ob das Kind dem Leben gegenüber gleichgültig wäre und argwöhnisch dem, was ihm jetzt wohl noch passieren könnte, gegenübersteht.
Da es den Kindern schwer fällt, über das, was ihnen angetan worden ist, zu sprechen, können die Anhaltspunkte, die sie durch ihr Verhalten an den Tag legen, die einzigen Hinweise sein, herauszufinden, was sie beunruhigt. Viele solcher Verhaltensmuster könnten jedoch auch nur normale Zeichen dafür sein, dass die Kinder heranwachsen. In diesem Kontext ist es also wichtig, nicht zu vergessen, dass ein und dieselben Verhaltensmuster Zeichen für die beginnende Reife wie auch Hinweise auf sexuellen Missbrauch sein können und deshalb immer untersucht werden sollten. Die Verdichtung von mehreren Auffälligkeiten und eine plötzliche unerklärliche Veränderung des Verhaltens deuten stark auf sexuellen Missbrauch hin.
Verhaltensauffälligkeiten im Grundschulalter
Für viele Kinder ist es gefährlich, offene Wut auf Erwachsene zu zeigen, da meist Bestrafung folgt. Ihre Wut und Aggression können sie nur dort zeigen, wo es für sie ungefährlich erscheint, wie z.B. in der Schule zur Lehrerin und den Mitschülern. Kinder die sexuell missbraucht wurden zeigen ein.
aggressives Verhalten
herausforderndes Verhalten Erwachsenen gegenüber
ein betont lautes und "angstloses" Auftreten.
Ihre Selbstachtung ist gestört, sie neigen zu Selbstverletzungen. Ihre Aggression richtet sich gegen sich selbst, indem sie sich Haare und Wimpern rausreißen und die Haut aufkratzen. Wird die Wut unterdrückt, zeige viele Mädchen und Jungen ein betont unauffälliges angepasstes und unterwürfiges Verhalten. Diese Kinder fallen am wenigsten auf, da sie den Unterricht nicht stören. Manche fallen nur durch ihr extrem ängstliches Verhalten auf. Aus Sorge jemand könnte etwas über den sexuellen Missbrauch erfahren, erfolgt häufig ein Abbruch von Beziehungen, der zum totalen Rückzug bis hin zur Isolation führen kann. Gewissen Erwachsenen gegenüber werden sie furchtsam oder weigern sich, mit diesen zu sprechen.
Im Unterricht kann ein scheinbar unmotivierter Leistungsabfall auffallen. Das Gegenteil übereifriger Ergeiz tritt ebenso auf. Währenddessen Schule schwänzen im Grundschulalter als Alarmzeichen gewertet werden kann. Andererseits erfinden sie hundert Ausreden, um nach der Schule nicht heim gehen zu müssen.
Als Folge von Schlafstörungen und Tagträumen treten Konzentrationsstörungen auf, die sich im Unterricht bemerkbar machen. Kinder die sexuell missbraucht werden machen häufig Anspielungen auf Geheimnisse, die sie nicht weitersagen dürfen, sie sagen, ein Freund habe ein Problem und fragen ob sie ein Geheimnis für sich behalten könnten, wenn sie ihnen etwas erzählten. Sie beginnen zu lügen, zu stehlen und ganz offen zu mogeln und zu betrügen, in der Hoffnung erwischt zu werden.
Ein altersunangemessener Kenntnisstand über Sexualität sollte ein Alarmzeichen sein, ebenso wie sexualisiertes (Spiel-) Verhalten und sexuelle Provokation. Häufig wiederholen sie obszöne Worte oder Sätze.
Zu all diesen Aufzählungen möchte ich über ein kurzes Fallbeispiel berichten:
Ein 8jähriges Mädchen zeigte sich plötzlich Verschlossen und unglücklich und weigerte sich, mit irgendeiner ihrer bisherigen Freundinnen zu spielen. Das Mädchen behauptete von sich, dass es hässlich sei und begann, sich die Haare auszureißen und sich selbst zu beißen. Die Lehrerin des Kindes, die immer besorgter um das Mädchen wurde, versuchte mit ihm zu sprechen. Aber das Mädchen weigerte sich zu reden. Danach hatte die Lehrerin ein Gespräch mit seiner Mutter, und es stellte sich heraus, dass sich das Kind zu Hause genauso benahm. Nach langem Hin und Her wurde das Geheimnis aufgedeckt. Während eines Besuchs hatte der Großvater das Kind sexuell missbraucht. Es war das erste und das einzige Mal gewesen, jedoch stellte sich nun heraus, dass der Mann über Jahre hinweg drei andere Enkelkinder missbraucht hatte. Die betroffenen Kinder hatten nie darüber gesprochen, weil ihnen der Großvater gesagt hatte, er müsste, wenn sie redeten ins Gefängnis. Das 8 jährige Mädchen war durch die sexuelle Attacke so sehr angegriffen und geschädigt worden, dass es noch lange Zeit hindurch getröstet, gehegt und gepflegt werden musste.
Verhaltensauffälligkeiten im Jugendalter
Bei jungen Menschen, die dreizehn Jahre alt und älter sind, können folgende Anzeichen, die auf sexuellen Missbrauch schließen lassen vorkommen:
Sie sind chronisch deprimiert;
sie sind suizidgefährdet;
sie nehmen Zuflucht zu Drogen oder betrinken sich;
sie fügen sich Selbstverletzungen zu;
sie werden auf unerklärliche Weise schwanger;
sie werden magersüchtig oder bulimisch;
sie geben sich auf auffällige Weise verführerisch.
Oft laufen sie von zu Hause weg oder erfinden Ausreden, um nicht nach Hause gehen zu müssen. Häufig zeigen sich dieselben Verhaltensauffälligkeiten im Grundschul- und Jugendalter.
Sie haben Alpträume, Anfälle von Wut oder irritierter Gereiztheit;
sie wollen sich beim Turnen- Schwimmunterricht nicht ausziehen;
sie werden verschlossen, kapseln sich ab oder sind scheinbar grundlos übertrieben beunruhigt.
Auch hier möchte ich zur Veranschaulichung ein Fallbeispiel vorstellen:
Die 15 jährige Karin war von ihrem Stiefvater jahrelang sexuell missbraucht worden. Er sagte zu ihr, sie sei für ihn etwas ganz Besonderes, kaufte ihr Geschenke und gab ihr große Geldsummen. Zu Hause hatte Karin die Verantwortung für alles übernommen; nie durfte sie mit Freunden ausgehen. Man hatte ihr beigebracht, dass die Familie auseinanderfallen würde und sie der Anlass dafür wäre, wenn sie je irgendjemandem etwas über den sexuellen Missbrauch sagen würde. Da sich der Missbrauch an ihr über Jahre hinzog, zeigte sie keine plötzlichen Verhaltensänderungen, aber sie entwickelte im Laufe der Jahre verschiedene Symptome. So hatte sie zweimal einen Suizidversuch unternommen, war magersüchtig geworden, konnte sich in der Schule nicht mehr konzentrieren, war oft deprimiert oder hatte ständig irgendwelche Probleme mit ihrer Gesundheit. Eigentlich hätte man den Grund für Karins Qualen aufgrund der Vielzahl von alarmierenden Anzeichen schon vor Jahren entdecken müssen. Dem sexuellen Missbrauch konnte schließlich nur deshalb Einhalt geboten werden, weil eine resolute Gymnastiklehrerin Karins Symptome als Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch interpretierte. Karins Stiefvater gab den Missbrauch allerdings nicht zu, ja sogar ihre Mutter ergriff gegen sie Partei.
Obwohl Karin den Missbrauch selbst aufdeckte, machte sie ihre Aussage später wieder rückgängig. Karin zog schließlich zu ihrer Großmutter, brauchte aber noch lange Zeit Therapie, um mit dem, was ihr wiederfahren war, fertig zu werden.Vielleicht wäre alles besser verlaufen, wenn der Missbrauch schon früher aufgedeckt worden wäre. Wir werden es nie wissen.
Es soll an dieser Stelle noch vermerkt werden, dass manche Kinder und junge Menschen, die sexuell missbraucht werden, sich sehr bemühen, zu verbergen, was mit ihnen geschieht. Irgendwie gelingt es ihnen ein Benehmen an den Tag zu legen, das den Missbrauch so gut wie verschleiert, dass niemand etwas merkt. Es wird schwierig sein, die Vielzahl der Hinweise immer in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch zu bringen. Alle Beschreibungen müssen jedoch als Hilferufe des Kindes an die Umwelt interpretiert werden.
8.5.2 Situation des Lehrers
Die Anforderungen an die Grundschullehrer sind sehr vielfältig, wobei die Arbeitsbedingungen sich zunehmend verschlechtern (Klassengröße, Personalmangel, soziale und/oder ökonomische Probleme der Familien). Die Grundschullehrer haben gerade unter dem Aspekt der sozialen und ökonomischen Probleme der Erziehenden die Chance, sich zu einer weiteren Vertrauensperson für Mädchen und Jungen im Grundschulalter zu entwickeln. Nach der Grundschule ist es durch den häufigen Lehrerwechsel und den steigendem Leistungsdruck noch schwieriger für Lehrer und Schüler ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Die Lehrkraft ist das entscheidende Bindeglied zwischen den Erziehenden, dem Kollegium und vor allem zwischen den Mädchen und Jungen. Aufgrund der Häufigkeit sexuellen Missbrauchs ist die Wahrscheinlichkeit groß, betroffene Kinder in jeder Klasse zu finden. Für diese Kinder ist die Schule oft der einzige Ort, an dem sie aus ihrer Isolation herauskommen. Sie senden Signale, die oftmals übersehen, nicht oder gar falsch verstanden werden. Die Lehrer können für betroffene Kinder als mögliche Vertrauensperson und Ansprechpartner eine große Hoffnung sein. Gerade Mädchen die das 1 bis 6 Schuljahr besuchen, sind auf die Sensibilität und die Hellhörigkeit ihrer Lehrer angewiesen. Wenn Kinder sich durch die Schule Hilfe erhoffen, prüfen sie häufig zunächst einmal die Belastbarkeit und die Zuwendungsbereitschaft der Lehrkräfte. Sie kommen z.B. mit kleinen Wehwechen, mit unnötigen Fragen oder belanglosen Geschichten auf die Lehrer zu, sodass bei diesen oftmals der Eindruck entsteht, dass das Kind eigentlich etwas ganz anderes sagen will oder wollte. Ist die Reaktion der Lehrkraft einfühlsam und geduldig, kann sich das Kind mit größerer Sicherheit weiter öffnen. Manche Kinder erzählen auch eher von harmlosen sexuellen Übergriffen, die entweder ihnen oder völlig anderen wiederfahren sind; andere sprechen Hinweise auf häusliche Situationen nur sehr indirekt aus, z.B. dass Mama so oft weg ist, dass der Papa abends manchmal schöne Geschenke macht oder dass sie nachts nicht gut schlafen können. Die Betroffenen wenden sich jedoch nur an die Lehrer, wenn ein offenes und vertrautes Verhältnis zwischen ihnen besteht und wenn Kinder bestimmte Signale von der Lehrkraft erhalten.
Für das Kind lauten diese: Ich bin für dich da, ich höre dir zu und ich glaube dir; ich weiß, dass es Erwachsene und Jugendliche gibt, die Mädchen und Jungen sexuell missbrauchen. Ich sage nichts ohne dein Einverständnis weiter. Die sanktionsfreie Atmosphäre, die signalisierte Gesprächsbereitschaft der Lehrkraft und ihre Parteilichkeit stellen wesentliche Voraussetzungen für das Vertrauen und Öffnen der Kinder dar. Mädchen und Jungen spüren sehr wohl die Angst und die Unsicherheit des Lehrers.
Betroffene Kinder haben durch den sexuellen Missbrauch gelernt, besonders die Bedürfnisse der Erwachsenen wahrzunehmen und sie vor Unannehmlichkeiten zu schützen. So wird ein betroffenes Kind bei einem unklaren und unsicheren Vorgehen der Lehrkraft alles dafür tun, sie zu entlasten und ihren Verdacht auszuräumen. Der Lehrer hat nur noch die Möglichkeit das Vertrauen der Kinder wiederzugewinnen und zu erhalten, wobei er den Druck aushalten muss, dem Kind nicht sofort helfen zu können. Die Zeit der Vertrauensbildung ist für das Kind notwendig, denn die Vertrauensbildung von dem Schüler zum Lehrer setzt auch immer die Vertrauensbildung des Lehrers zum Schüler voraus und leider führt sie nicht immer zum Ziel der Öffnung. Schule und Unterricht sind nicht darauf angelegt, Vertrauen wachsen zu lassen. Vielmehr ist dies zur Zeit noch abhängig von der Persönlichkeit der Lehrkraft, von ihrem Führungsstil, ihrem pädagogischen Selbstverständnis und ihrem demokratischen emanzipatorischen Verhalten in der Klasse oder auf dem Pausenhof, bei Schulausflügen und Elterngesprächen.
Lehrer sind in der Rolle als Autorität eine notengebende Instanz, über die sie sich als solche im Klaren sein sollten. An dieser Stelle entsteht auch wieder die Frage nach eventuell zusätzlichen außerschulischen Personen, die in die Präventionsarbeit eingebunden werden können.
Das Problem des sexuellen Missbrauchs erfordert ein Umdenkungsprozess bei Lehrern, denn die herkömmlichen Direktlösungen greifen bei dieser Problematik nicht, sondern können sich ins Gegenteil verkehren.
Das existentielle Problem der Kinder ist ein besonders sensibles Thema, das von ihnen mit aller notwendigen Vorsicht und nach sorgfältiger Planung und Vorbereitung angegangen wird.
Vielleicht können sie sich vorstellen, dass auch in ihrer Schule (Klasse) Kinder sind, die mit sexuellem Missbrauch konfrontiert werden. Eventuell haben sie sogar einen Verdacht, sie fühlen, dass mit diesem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Der Junge oder das Mädchen hat sich verändert, ist plötzlich gar nicht mehr wiederzuerkennen. Die psychische Situation des Lehrers kann folgendermaßen aussehen:
Unglaube Vielleicht stimmt es ja gar nicht. Würde man nicht blöd dastehen, wenn das nicht stimmt und eine Anzeige wegen Verleumdung bekommt?
Verleugnen Es erscheint unvorstellbar, dass so ein netter, respektabler Mann seine Tochter missbraucht. Am besten tue ich so, als ob nichts geschehen ist. Sicher war der Missbrauch eine Ausnahme. Tatsache ist leider, dass ein Kind sexuellen Missbrauch häufig über Wochen, Monate oder sogar Jahre ertragen muss. Besonders wenn es innerhalb der Familie passiert.
Hilflosigkeit Dieser sympathische Mann soll das Kind missbraucht haben. Was wird aus der Familie, wenn ich ihn anzeige? Das kann man der Familie doch nicht antun, was soll ich bloß tun? Wenn das Kind Vertrauen zu ihnen hat, können sie trotz Angst eine große Stütze für das Kind sein, indem sie Partei für das Kind ergreifen. Besprechen sie in Ruhe das Problem, holen sie sich Hilfe!
Sprachlosigkeit Ich sehe rot, das Herz klopft mir vor Wut bis zum Hals, ich bin traurig, sprachlos und hilflos. Wie ist so etwas nur möglich? Ein Gewirr von Gefühlen entsteht meist, wenn klar ist, dass ein Kind sexuell missbraucht wurde und eventuell noch wird.
Delegation Damit komme ich alleine nicht zurecht, da habe ich keine Ahnung, wie man mit so einem Problem umgeht, andere können das sicher besser. Solche Reaktionen sind verständlich, aber für das Kind nicht hilfreich. Geben sie das Kind nicht weg, sondern holen sie sich selbst Hilfe. Seien sie da für das Kind.
Handlungsdruck Es muss schnell etwas geschehen, aber was? Die eigene Sprachlosigkeit führt zum Gefühl, schnell etwas unternehmen zu wollen, bevor sie jedoch etwas unternehmen, informieren sie sich. Besprechen sie jeden Schritt, den das Opfer betrifft zuerst mit dem Opfer. Das Gefühl erneut ausgeliefert zu sein, kann sich schnell bei dem Mädchen und Jungen einstellen, auch wenn sie es gut mit ihm meinen.
8.5.3 Interventionsschritte
Der Umgang mit der Aufdeckung von sexuellem Missbrauch erfordert ein breites, stark differenziertes und einfühlendes Verhalten sowie die Auseinandersetzung mit der Thematik und das daraus resultierende Wissen. Weiterhin ist der Umgang mit der Aufdeckung von der Situation, dem Alter, dem Täterkreis und den Handlungsmöglichkeiten abhängig. Die beste und eindeutigste Möglichkeit, sexuellen Missbrauch festzustellen, ist die Offenlegung durch das Kind. Durch ein gezieltes Gespräch kann der bestehende Verdacht erhärtet werden. Was muss also bei einem solchen Gespräch betrachtet werden?
Ich übernehme hier einige Verhaltensregeln, die zu beachten sind, wenn ein Kind über sexuellen Missbrauch spricht.
Dem Kind glauben!
Glauben sie dem Kind, auch wenn es noch so unglaubwürdig klingt oder das Kind in anderen Dingen nicht immer die Wahrheit sagt. Die Erfahrung hat gezeigt, das Kinder die Wahrheit sprechen, da Berichte über sexuellen Missbrauch nicht der kindlichen Phantasie entspringen.
Sich unbedingt Zeit nehmen!
Nehmen sie sich Zeit, vermitteln sie dem Kind Gesprächsbereitschaft und schaffen sie einen sicheren Ort, an dem sie Ruhe und Zeit haben.
Bleiben sie möglichst ruhig!
Wenn das Kind über den sexuellen Missbrauch spricht, bleiben sie ruhig. Halten sie ihre eigene Betroffenheit, ihre Bestürzung und Panikreaktionen zurück. Erschrecken sie auf keinen Fall das Kind mit ihrer eigenen Wut auf den Täter. Es könnte sonst seine Offenbarung und Geständnisse zurücknehmen und wieder schweigen. Stellen sie den Wunsch nach sofortigem Handeln unbedingt zurück.
Dem Kind versichern, dass es richtig war über den sexuellen Missbrauch zu sprechen!
Dem Kind sollte eine positive Rückmeldung gegeben werden, wie viel Mut und Stärke es erfordert hat, sich Hilfe zu holen. Je nach Situation sollte auf das Geheimhaltungsgebot eingegangen und dem Kind gesagt werden, dass es richtig war solche Geheimnisse nicht für sich zu behalten.
Die Gefühle des Kindes zulassen!
Die Gefühle des Kindes müssen ernst genommen werden und die Empfindungen des Kindes, wie Angst, Scham, Verzweiflung, Verwirrung, Tränen und Sprachlosigkeit müssen ausgehalten werden. Ein ausdrücklicher Fehler wäre in diesem Fall, wenn sie dem Kind seine schmerzhaften Empfindungen wegtrösten wollen, mit Hinweisen wie:
Na, so schlimm ist es ja auch wieder nicht gewesen.
Dein Vater hat es sicher nicht so gemeint.
Jetzt sei mal nicht mehr so traurig, wisch die Tränen weg, wir werden den Mann ins Gefängnis bringen, und dann kannst Du wieder alles vergessen.
Dem Kind versichern, dass es an dem sexuellen Missbrauch keine Schuld trägt!
Die Erwachsenen sollen dem Kind sagen, dass nur der Täter dafür die Verantwortung trägt. Dem Kind kann auch gesagt werden, dass sexueller Missbrauch häufig vorkommt, obwohl das verboten ist und das die Täter genau wissen, dass es nicht richtig ist, auch wenn sie das Gegenteil behaupten.
Das Kind nicht mit drängenden Fragen unter Druck setzen!
Das Kind soll nicht mehr erzählen, als es im Moment verkraften kann. Dabei soll dem Kind die Bereitschaft und Offenheit vermittelt werden. Nur wenn das Kind dazu in der Lage ist, sollten weitere Fragen gestellt werden.
Die Gefühle, die das Kind gegenüber dem Täter empfindet zulassen!
Erwarten sie nicht, dass das Kind den Täter hasst, weil dieser ihm das angetan hat, nur weil sie selber Zorn gegen ihn verspüren. Es ist durchaus möglich, dass das Kind den Täter trotz des Missbrauchs noch liebt. Heftige Reaktionen könnten im Kind Schuldgefühle verstärken und es verstummen lassen.
Setzen sie sich selbst nicht unter Druck, sofort die Lage des Kindes verändern zu müssen!
Erwachsene dürfen sich selbst nicht unter Druck setzen, sofort und im Moment die Lage des Kindes verändern zu müssen. Kopfloses und ungeplantes agieren kann zu noch größerem Schaden führen, da die Erfahrungen zeigen, dass nach unvorsichtig eingeleitetem Aufdeckungskampagnen das Kind häufig über Jahre hinweg mit größerer Gewalt ausgebeutet wird. Wenn z.B. ein Täter von ihren Aktionen erfährt und mit allen Mitteln dafür sorgt, dass ihnen das Kind zur weiteren Ausbeutung und zur Befriedigung seiner Machansprüche erhalten bleibt, könnte er unter anderem das Kind einsperren; er könnte es mit schlimmeren Drohungen zum Schweigen verpflichten; er könnte es aus dem Kindergarten abmelden usw..
Dem Kind keine Versprechungen machen, die hinterher nicht eingehalten werden können!
Machen sie keine Versprechungen, die sie nicht einhalten können, wie z.B. dass die/der Erwachsene niemand davon erzählen wird und das sie für die sofortige Beendigung des sexuellen Missbrauchs sorgen, denn auch dazu sind Erwachsene häufig leider nicht in der Lage.
Dem Kind das Wissen um seine passive Rolle bei sexuellem Missbrauch verdeutlichen!
Es ist ganz wesentlich, darauf zu achten, dass die Erwachsenen bei den Formulierungen um Gewalthandlungen dem Kind keinerlei aktiven Part unterstellen. Fragen sie z.B. am besten:
Wie hat er dir Angst gemacht, damit du nichts erzählst?
Hat er von dir verlangt, seinen Penis in die Hand oder in den Mund zu nehmen?
Hat er dich gezwungen, ...?
Wenn sie versehentlich das Kind fragen würden: Hast du dann seinen Penis in die Hand genommen?, könnte es sofort annehmen, dass sie an seine aktive Beteiligung bei der Missbrauchshandlung und damit auch an seine Schuld glauben.
Ist das Kind dazu in der Lage, können ihm weitere Fragen gestellt werden!
Hast du schon anderen Personen über den Missbrauch erzählt?
Weiß /wissen deine Mutter/Eltern davon?
Kannst du dir vorstellen, wie deine Mutter reagieren würde, wenn sie davon erfährt?
Was wünschst du dir im Moment? Was könnte dir helfen?
Mit wem könntest Du darüber sprechen?
Hier müssen die Beziehungen des Kindes zum Täter berücksichtigt werden, z.B. wenn die Oma die Mutter des Täters ist. Es müssen gezielte Handlungsschritte zusammen mit dem Kind überlegt werden, wie es vor weiteren Missbrauchshandlungen geschützt ist bzw. wie sich ein älteres Kind selbst schützen kann.
Hilfe holen!
Mit dem Kind vorsichtig seine Zustimmung erarbeiten, eine andere Person hinzuziehen zu dürfen. Es ist ganz zentral, dass keine Schritte unternommen werden, ohne das das Kind Bescheid weiß. Dem Kind soll das versichert werden und Erwachsene sollten sich unbedingt daran halten. Holen sie sich fachliche Unterstützung und bleiben sie mit den nun auf sie zukommenden Problemen nun nicht allein. Das Thema sexueller Missbrauch berührt bei Helfern häufig auch eigene Erfahrungen und Ängste. Suchen sie das Gespräch mit anderen. An vielen Orten sind inzwischen Berufsgruppen und spezialisierte Beratungsstellen entstanden, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und Erfahrungen gesammelt haben.
Dort können sie unter Umständen nicht nur für sich selber Hilfe bekommen, sondern auch beraten werden, welche Schritte sinnvoll sind, dem Kind zu helfen. Um einer Überforderung entgegenzuwirken ist es wichtig, nicht alles alleine machen zu wollen. Alles, was über den persönlichen Kontakt mit dem Kind hinausgeht, kann an andere abgegeben oder mit anderen zusammen erfolgen. Zur eigenen Entlastung wäre es sinnvoll, mit dem Schulleiter zu verhandeln, dass Termine (z.B. Beratungsstellen) vormittags während der Dienstzeit wahrgenommen werden können.
Hier ein Gesprächsvorschlag dazu, wie sie dem Kind mitteilen können, dass sie professionelle Hilfen hinzuziehen können:
Ich habe dir versprochen, dass ich dich nicht an die Person verraten werde, die dir das angetan und dein Vertrauen so missbraucht hat. Ich habe dir auch versprochen, dass ich dir helfen und dich beschützen möchte. Meine eigenen Möglichkeiten reichen dazu nicht aus. Es gibt aber Einrichtungen, in denen Leute arbeiten, die uns unterstützen können. Auch sie haben die Pflicht, zu schweigen und dürfen deinen Bericht nicht weitererzählen. Aber sie können uns helfen, dass die Person, die das mit dir gemacht hat dich nicht weiter belästigt und auch mit anderen Kindern so etwas nicht machen kann.
Sorgen sie dafür, dass das Kind vom Missbraucher getrennt wird!
Wenn ein jüngeres Kind den Missbrauch angesprochen hat, kann es langfristig nur geschützt werden, wenn der Kontakt zum Täter unterbunden wird. Kommt der Täter aus dem Bekannten- oder weiteren Verwandtenkreis, ist es meist leichter, Besuche zu untersagen. Ist der Täter jedoch der Partner der Mutter, muss diese dafür gewonnen werden, das Kind mit aller Konsequenz zu schützen und sich von ihm zu trennen. Die Mutter sollte in einem solchen Fall selbst Unterstützung, insbesondere durch Fachleute in Anspruch nehmen. Ist sie trotz aller Hilfe nicht bereit, sich von ihrem Partner zu trennen, müssen andere Unterbringungsmöglichkeiten für das Kind gesucht werden, z.B. Verwandte, Wohngruppen. Auch diese Maßnahmen müssen mit dem Kind besprochen werden und es sollte unbedingt von einer Vertrauensperson begleitet werden. In einem solchen Fall wird es notwendig, das Jugendamt einzuschalten.
Wenn das Kind sie als Vertrauensperson ausgesucht hat, ergreifen Sie im weiteren Handlungsverlauf immer seine Partei und vermeiden Sie Sekundärschädigungen!
Eine Sekundärschädigung ist es, wenn ein Kind zum zweiten Mal zum Opfer wird. Das kann passieren durch:
erneutem Vertrauensbruch durch das Gefühl, dass ihm nicht geglaubt wird;
erneute Grenzverletzung und erneutes nichternstgenommen werden des Kindes durch Handlungsschritte, die nicht mit ihm abgesprochen wurden;
Wiederholung von Gewalterfahrungen, Ohnmachtgefühlen und Angst, wenn das Kind Opfer von unüberlegten Aktionen wird;
durch aggressive, ungläubige Befragungen;
durch direkte oder unterschwellig geäußerte Schuldzuweisung;
durch nicht vorbereitete und unsensibel durchgeführte gynäkologische Untersuchung.
Tragen sie Sorge, dass das missbrauchte Kind einer vertrauensvollen therapeutischen Behandlung zugeführt wird. Das Kind muss eine Hilfe erhalten sowie das Angebot darüber sprechen zu können, wann immer es das Bedürfnis dazu hat. Viele Erwachsene, die an den Spätfolgen von sexuellem Missbrauch leiden, hatten nie die Gelegenheit über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen, als sie Kinder oder Jugendliche waren. Oder sie haben darüber gesprochen und schlechte Erfahrungen gemacht. Kinder haben die Fähigkeit, schlimme Erlebnisse in einer vertrauensvollen Beziehung zu bewältigen. Ein Kind muss also unbedingt therapeutische Hilfe erhalten. So erhält es durchaus Chancen, nicht dauerhaft unter der Erfahrung des sexuellen Missbrauchs leiden zu müssen.
Strafanzeige
Wenn es auch generell wünschenswert erscheint, sexuelle Übergriffe anzuzeigen, allein schon um das große Dunkelfeld mehr zu beleuchten und den Tätern das Gefühl zu nehmen, dass es sich bei diesen Vergehen um ein Delikt ohne Opfer handelt, sollte jede Anzeige dennoch mit Rücksicht auf das missbrauchte Kind sorgfältig überlegt werden. Bevor aus Hilflosigkeit und Resignation nach dem Strafrecht gerufen wird, sollten weniger entscheidende Möglichkeiten überlegt und ausgeschöpft werden.
Eine Anzeige ist grundsätzlich dann sinnvoll,
wenn sie der einzige Weg ist, ein Kind vor weiteren Übergriffen zu schützen, wenn das Kind sich dafür entscheidet, nachdem es ausreichend über seine Rechte bei der Aufnahme der Anzeige und beim Gerichtsverfahren informiert wurde.
Niemals jedoch sollte gegen den Willen des Opfers und ohne dessen Wissen eine Anzeige erstattet werden. Erfährt die Polizei von einer Straftat, muss sie tätig werden und alle tat- und täterrelevanten Fakten objektiv zusammentragen. Ist das Ermittlungsverfahren eingeleitet, werden Bezugspersonen des missbrauchten Kindes Zeugen und das Kind selbst vernommen bzw. angehört werden. Aber auch Sachbeweise am Tatort, beim Täter, am Täter und am Opfer müssen gesucht, gesichert und untersucht werden. Für das missbrauchte Kind ist es wichtig, von einer Vertrauensperson zur Anhörung beglep>itet zu werden. Das Opfer ist der unmittelbarste und wichtigste Zeuge, dessen Aussage auf jeden Fall detailliert aufgenommen werden muss. Die Aussage muss so aufgenommen werden, dass sie sowohl den Anforderungen eines Strafverfahrens genügt als auch dem Kind keine weiteren Schäden zufügt. Kommt es zu einem Gerichtsverfahren, müssen unmittelbar vor Gericht alle Fakten dargelegt werden, was auch eine erneute Vernehmung des Opfers vor Gericht notwendig macht. Nach dem Opferschutz hat jedes Opfer das Recht auf anwaltlichen Beistand. Ein Anwalt hat umfangreiche Möglichkeiten, in das laufende Ermittlungsverfahren einzugreifen und die Rechte des Opfers nachdrücklich geltend zu machen. Er hat die Möglichkeit, darauf hinzuwirken, dass die Belastungen für das Opfer möglichst gering gehalten werden können.
Leider wird es nicht immer gelingen, Kinder in Zukunft vor weiteren sexuellen Übergriffen zu schützen. Deutlich müssen wir uns vor Augen halten, dass es immer Fällte geben wird, wo wir nichts ausrichten können. Die beste Hilfe für das Kind werden sie jedoch sein, wenn sie mit dem Kind Kontakt halten und es wertschätzen. Bei allen Schritten, die wir unternehmen, sollten wir uns immer von dem wichtigsten Punkt leiten lassen:
Der Schutz des Kindes geht vor einer möglichen Strafe des Täters, weil eine Sekundärtraumatisierung nie ausgeschlossen werden kann. Mit sexuellem Missbrauch konfrontiert zu werden erschüttert verständlicherweise und es erfordert viel Kraft mit der Tatsache umzugehen.
9. Fazit und Aussichten
Sexueller Missbrauch von Kindern ist keineswegs eine Seltenheit oder gar eine Erfindung hysterischer Frauengruppen. Immerhin ist davon auszugehen, dass beinahe ein Viertel aller Frauen und fast zehn Prozent aller Männer als Kinder sexuell missbraucht wurden. Nach der Dunkelfeldforschung kommen Jahr für Jahr etwa 80 000 neue Fälle hinzu. Dabei sind noch nicht einmal die mindestens 5000 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren miteingezählt, die in Deutschland der Kinderprostitution nachgehen.
Alles in allem lässt sich mit gutem Grund behaupten, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder eine Wirklichkeit darstellt, vor der wir uns nicht mehr verschließen können und dürfen.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder hat es in allen geschichtlichen Epochen und in vielen Gesellschaftsordnungen gegeben. Insofern ist die manchmal von feministischer Seite vorgebrachte Erklärung, sexueller Missbrauch von Kindern sei auf die männlich bestimmte Gesellschaftsform zurückführbar, kaum zu belegen. Einleuchtender sind Theorien, die sexuellen Missbrauch auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Wir können uns das wie ein Dreieck vorstellen, in dem die gesellschaftlichen Strukturen und das System Familie auf eine bestimmte Persönlichkeit einwirken. Diese Persönlichkeit entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen den Polen Gesellschaft und Familie und wirkt auf sie zurück. In welchem Umfang die Gesellschaft, das Familiengefüge oder das jeweilige Einzelschicksal dafür verantwortlich ist, ob ein Mensch sexuelle Gewalt ausübt, ist schwer zu beantworten.
Wir wissen, dass viele Täter als Kinder selbst missbraucht wurden. Es trifft sicher zu, dass unsere Gesellschaft frauenfeindlich und männerorientiert ist. Nur reicht das nicht aus, um zu erklären, warum das eine Kind als Erwachsener zum Täter wird und ein anderes ein angepasstes und unauffälliges Leben führt. Was ich damit sagen will, ist: Weder die Gesellschaft noch die Familie noch die Störungen" eines bestimmten Menschen sind alleinige Ursachen für sexuellen Missbrauch und Ausbeutung.
Wenn wir begreifen, wie aus Menschen Täter werden, kann begonnen werden sich mit der Therapie von Sexualstraftätern zu befassen. Indem man dem Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern sozusagen zu Leibe" rückt, verliert man etwas von der Angst. Denn einer der Gründe dafür, dass wir diejenigen, die andere Menschen sexuell ausbeuten, so sehr verachten, ist eine tiefe Angst vor dem unbegreifbaren Unbekannten.
Es wäre etwas zuviel verlangt, wenn man erwarten würde, dass man Menschen, die wehrlose Kinder zu ihrer eigenen sexuellen Befriedigung missbrauchen und erniedrigen, verstehen. Das gelingt noch nicht einmal den Leuten, die täglich mit Sexualstraftätern therapeutisch arbeiten. Dadurch, dass wir sexueller Gewalt besonnen und entschlossen begegnen, tun wir mehr zum Schutz der Kinder, als wenn wir angsterfüllte und übereilte Schritte unternehmen.
Wenn Kinder sexuell missbraucht werden, steckt ein Bündel von Ursachen dahinter. Monokausale, nur eine Seite stehende Erklärungsversuche werden dem vielschichtigen Problem nicht gerecht. Sicher spielt bei der Entwicklung eines Menschen zum Täter die Biologie eine gewisse Rolle. Ob ein Mensch mit bestimmten Anlagen jedoch Kinder sexuell missbraucht, ist entscheidend von seiner persönlichen Lebensgeschichte abhängig.So verständlich der Wunsch nach einfachen Erklärungen und Lösungen ist: Die Welt ist komplizierter, als wir sie uns wünschen. Weder die Triebtäter- Theorie noch die feministischen Erklärungen können überzeugen.
Sexueller Missbrauch von Kindern kann nicht Privatangelegenheit bestimmter Interessengruppen oder politisch- ideologischer Gruppen sein. Wir können sexuellen Missbrauch an Kindern nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
In der Arbeit konnte festgestellt werden, dass die patriarchalen Familien- und Gesellschaftsstrukturen sexuellen Missbrauch bedingen und somit sexueller Missbrauch in ihren politischen Dimensionen eine Frage der herrschenden Gewaltverhältnisse ist.
Sexueller Missbrauch an Mädchen und Jungen und auch sexueller Missbrauch an Frauen darf somit nicht nur als individuelles Problem eines einzelnen Täters oder eines einzelnen Familiensystems verstanden, sondern muss als strukturelle Gewalt einer patriarchalen Gesellschaft begriffen werden. Um sexuellen Missbrauch zu verhindern, müssen gesellschaftlich tradierte Rollenvorstellung verändert werden und grundlegende Veränderungen in bezug auf die Arbeitswelt stattfinden. Eine Aufwertung der bisher vernachlässigten, ökonomisch nicht effektiven Bereiche der Menschlichkeit und Reproduktion könnte auch die Bereitschaft der Männer für die Erziehung und die Übernahme reproduktiver Arbeit fördern. Diese Verlagerung sollte durch eine gesetzliche Regelung stabilisiert werden, die Frauen und Männern Erziehungszeiten in gesicherter Form einräumt und in der finanzielle Verluste ausgeglichen werden. Darüber hinaus sollten gesetzliche Grundlagen geschaffen werden, die ihrem Anspruch auf präventiven Charakter gerecht werden.
Die Verantwortung dafür, dass sexueller Missbrauch verhindert wird, liegt eindeutig bei den Erwachsenen. Das bedeutet, dass nicht nur Professionelle, sondern die ganze Öffentlichkeit besser informiert werden muss. Dabei darf sich die Aufklärungsarbeit nicht auf die Erstellung und Verteilung von Informationsbroschüren beschränken. Als Grundlage für eine breite Öffentlichkeitsarbeit werden wissenschaftliche Untersuchungen und empirische Daten benötigt. Für die Bundesrepublik liegt meines Wissens nur eine Studie vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass bei Politikern entgegen anderslautender Erklärungen, kein Interesse an wissenschaftlich gesicherten Daten über sexuellen Missbrauch an Kindern besteht, denn würden die Untersuchungen die hohen Zahlen des sexuellen Missbrauchs bestätigen, müssten Konsequenzen gezogen werden. Politiker wären gezwungen, bei weitem mehr finanzielle Mittel als bisher spezialisierte Beratungsstellen, Fortbildungs- und Präventionsprojekte bereitzustellen. Dabei wäre flächendeckend die Einrichtung und Finanzierung solcher dringend notwendig.
Das große Ausmaß von sexuellem Missbrauch erfordert weiterhin die ständige Fort- und Weiterbildung für Mitarbeiter der Beratungsstellen, Kindergärten, Schulen, Heime, Psychiatrien wie auch für Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Mediziner, Juristen und Polizisten. Letztlich ist Fort- und Weiterbildung für alle mit der Problematik befassten Berufsgruppen notwendig. Neben reiner Wissensvermittlung sollten sie auch einen Selbsterfahrungsteil beinhalten.
Prävention beginnt dort, wo Erwachsene sich mit dem Nährboden für sexuelle Gewalt auseinander setzen, nämlich mit der Erziehung zum Gehorsam, zur Anpassung an patriarchale Geschlechtsrollen, zur Unterdrückung von Sexualität und zur Geringschätzung von Gefühlen. Eine emanzipatorische Prävention mit Kindern kann somit nur der letzte Schritt sein, und zwar mit dem Ziel das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen zu reduzieren. Wenn so getan wird, als ob Prävention, die sich ausschließlich auf Kinder bezieht, sexuellen Missbrauch aus der Welt schafft, wird zur Verschleierung der Problematik beitragen. Stattdessen beginnt die Prävention mit Kindern bei einer emanzipatorischen Erziehung, die einer Grundhaltung zwischen Kindern und Erwachsenen darstellt und einen kooperativen Umgang ermöglicht, indem das Kind mit seinen Rechten, Bedürfnissen und Gefühlen genauso Platz hat wie die Erwachsenen. Das bedeutet auch, dass die Verantwortung nicht nur bei den Eltern und Bezugspersonen liegt, sondern auch in anderen Erlebnisräumen der Kinder wie z.B. im Kindergarten und in der Schule. Gerade die Schule als zweitwichtigste Sozialisationsinstanz muss in ihrem koedukativen System das Merkmal Geschlecht und damit die unterschiedlichen Lebenswelten und gesellschaftlichen Bedingungen der Geschlechter in ihrem Gesamtkonzept berücksichtigen. Sie sollte dafür Sorge tragen, dass Mädchen und Jungen neben den wissenschaftlichen Disziplinen gleichberechtigt der Erwerb von sozialen Handlungskompetenzen ermöglicht wird. Dazu gehören auch Bereiche wie Sexualerziehung und Prävention von sexuellem Missbrauch, die in Form eines Spirallehrplans über die gesamte Schulzeit ihren Platz haben sollten. Darüber hinaus können spezielle Präventionsprojekte durchgeführt werden.
Gerade im Bereich Schule könnte die Sozialarbeit einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt einnehmen, jedoch gibt es in der Bundesrepublik noch kaum Schulsozialarbeit. Präventionsarbeit sollte sich auch bei der Sozialarbeit keineswegs auf die Arbeit mit Kindern beschränken, sondern sich vielmehr auf die Zielgruppe Erwachsene konzentrieren. Auch in klassischen Kinderbereichen wie Kindergarten oder Schule stellt die Erwachsenenarbeit einen zentralen Aspekt dar, durch die die Sozialarbeit zum Bindeglied zwischen Eltern, Lehrkräften und Kindern werden könnte.
Die menschliche Sexualität, eine ebenso lebenswichtige wie lebenserhaltende Fähigkeit, ist extrem sensibel und störbar. Von der Geburt bis zum Erwachsenensein ist sie zahlreichen Störungsquellen ausgeliefert. Insofern sind unsere sexuellen Neigungen, Vorlieben und Störungen unmittelbarer Ausdruck unserer Persönlichkeit.
In jedem Menschen ist- so erschreckend es sich auch anhört- die Möglichkeit angelegt, sexuell abweichendes Verhalten zu entwickeln. Ob wir die Abweichungen von normaler Sexualität als pervers bezeichnen, als strafbare Handlung ansehen oder als Variation menschlicher Sexualität betrachten, ist eine Frage von Übereinkunft. Es kann nicht darum gehen, moralisch entrüstet den Verfall der Sitten zu beschwören. Die Zahlen missbrauchter Kinder steigt weder, noch fällt sie. Offensichtlich gibt es eine gesellschaftlich vorgegebene Rate von sexuellen Missbrauchsfällen. Wie es aussieht, haben wir uns an einige Raten, die der Drogentoten, der Verkehrstoten und die der tödlich verunglückten und körperlich misshandelten Kinder, fast gewöhnt. Die Gewissenfragen, die wir uns allen stellen müssen, ist die, ob wir uns auch in Zukunft an die Zahl der sexuell missbrauchten Kinder gewöhnen möchten. Wenn wir es nicht wollen, dann sollten wir immer zuerst bei uns selbst beginnen.
Eine Welt, in der kein Unrecht geschieht und in der Kinder optimal geschützt sind, bleibt eine Utopie. Zum Abschluss möchte ich Friedrich Dürrenmatt aus seinem Drehbuch Es geschah am helllichten Tage zitieren: Die Möglichkeit, dass Kinder in Gefahr sind, muss man hinnehmen. Wir können nur das Mögliche tun. Kinder sind immer in Gefahr.
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